Es geht um die „glänzende“ Nicht-Teilnahme von Unternehmen an Barcamps. Ich werde versuchen darzulegen, warum eine Teilnahme – mag es sich übertrieben anhören oder nicht – am Barcamp ökonomisch mehr als nur sinnvoll ist. Und warum Unternehmen Barcamps als Sponsoren fördern sollten.
Barcamps seit 2006
Wann fand eigentlich das erste Barcamp statt? Es müsste Oktober 2006 in Berlin gewesen sein. Seitdem fanden – wenn ich es grob schätzen müsste – rund 50 Barcamps und weitere, spezialisierte Barcamps („Themencamps“) in Deutschland und der gesamten DACH-Region statt.
Auf jedem Barcamp kommen in der Regel Web-Interessierte zusammen, angefangen von neugierigen Offlinern bis hin zu absoluten Fachleuten. Auf den Barcamps werden Sessions rund um das Thema Internet bis in den letzten Winkel geboten, zudem finden ein Haufen Gespräche vor und nach den einzelnen Vorträgen statt.
Was ist eigentlich ein Barcamp?
Liest einfach in der Wikipedia weiter nach. Und weitaus mehr erfahrt Ihr darüber, wenn Ihr Euch den fantastischen Orga-Leitfaden anschaut. Einen etwas kürzeren Leitfaden findet Ihr auf der Barcamp.at Seite.
These: Barcamps sind eine Projektionsfläche der Internetzukunft
Auch wenn viele Gedanken bei der Aussage „die sind doch sowieso in ihrer eigenen Welt, das hat mit den Internetusern draußen nix zu tun“ (was ich für eine höchst schwachsinnige Behauptung halte) leider aufhören, so sollte man sich bewusst machen, dass ein Barcamp ein Schlüsselloch in die bzw. Projektionsfläche der künftigen Internetmärkte ist. Das ist ökonomisch gesehen ein unschätzbarer Einblick, den man mit Geld kaum aufwiegen kann.
Das digitale Informationszeitalter macht Marktbeobachtung unabdingbar
Jeder auch nur einigermaßen vernunftbegabte Entscheidungsträger weiß um die zunehmende Dynamik der Märkte, die zu einem Großteil auf der Zunahme der Kommunikationstechnik basiert, die letztendlich zu einem intensiveren Wettbewerb führt. Zugleich steigt die Macht der Konsumenten nicht nur auf polypolistischen Märkten (viele Anbieter, viele Nachfrager) gerade und wegen dem Internet, sondern mittlerweile sogar in oligopolistisch strukturierten Märkten (wenige Anbieter, viele Nachfrage = Automobil- und Energiebranche). Entscheidungszyklen werden immer kürzer, die Risiken aus Fehlentscheidungen nehmen zu. Wer die Märkte von Morgen nicht mehr einzuschätzen weiß, wird auf der Strecke bleiben. Das gilt heute weitaus mehr denn vor 100 Jahren. Sprich: Es ist heute für Unternehmen unabdingbar geworden, die marktverändernden Kräfte des Internets zu verstehen.
Das Internet und die damit einhergehenden Innovationen haben in lediglich 15 Jahren gesamte Branchen durcheinander gewirbelt. Wer das heute noch anzweifelt, hat die letzten 15 Jahre im Offline-Keller verbracht. Produktionsbetriebe sind gezwungen worden, sich an die Einkaufssysteme der Nachfrager anzuschließen. Kataloganbieter stampfen ihre Kataloge ein, vertreiben immer mehr über das Netz. Die Musikindustrie jammert über sinkende CD Verkäufe, wehren kann sie sich kaum noch. Die Automobilbranche entwickelt Produkte weltweit rund um die Uhr, es gehört mittlerweile zum Kern-KnowHow wie man 10.000 Ingenieure rund um die Uhr projektmäßig organisiert. Banken haben ihre Filialstrukturen dramatisch umgestellt, kaum eine Bank kommt ohne Internetbanking aus. Fluglinien können nur wegen dem Internet existieren. Interpersonelle Kommunikation findet mehrheitlich via Mail und zunehmend via Chat statt. Völlig neue Giganten wie Google, eBay, Amazon und Facebook sind entstanden, die das Informationsmanagement der Kunden komplett auf den Kopf gestellt haben, Firmen kommen daran nicht mehr vorbei.
Warum spielen Barcamps eine große Rolle bei der Markbeobachtung?
Seit 2006 rätseln und stochern zahlreiche Unternehmen herum, was es wohl mit dem Internet auf sich hat, was Blogs sind, was dies und jenes bedeutet, wie User ticken, wie sie miteinander kommunizieren, wie sie sich informieren, was sie nutzen, was man als Unternehmen selbst machen kann. Und dem ist nicht nur seit 2006 so, die Leidensarie hat schon viel früher begonnen. Ich kann volkswirtschaftlich nicht einmal annähernd einschätzen, wie viele Milliarden an Geldern für mangelnde Expertisen, unnütze Workshops, am Markt vorbeigehende Technikstudien, Fehlprojekte und schlecht ausgeführte Internetangebote ausgegeben wurden. Ich wette, dass ein guter Teil der Fehlinvestitionen auf einen ungenügenden Informationsstand und einen Mangel an KnowHow zurückzuführen ist.
Auf dem Barcamp kommen Menschen zusammen, die meiner Meinung nach exakt das projizieren, wie sich User gesamtheitlich in rund 5-10 Jahren verhalten werden. Wer bedenkt, dass Investitionen in der Wirtschaft eine Vorlaufzeit von manchmal 5-20 Jahren haben, kann den Einblick in ein Barcamp nicht genug wertschätzen. Statt 100 Millionen in Fehlinvestitionen zu versenken, sollte sie die besten Analytiker, Produktmanager und Entscheidungsträger auf ein Barcamp schicken, um sich ein Bild zu machen. Der Besuch von lediglich 5 Barcamps bedeutet eine Investition von rund 10.000-20.000 Euro (mit jeweils 2 Mann und 2 Tagen pro Barcamp inkl. Übernachtung, Reise und bewerteter Abwesenheitszeit). Und senkt das Risiko von Fehlentscheidungen immens, erhöht zugleich die Chance markant, die richtigen und entscheidenden Entscheidungen zu treffen.
Mir ist völlig schleierhaft, warum in Unternehmen überhaupt noch diskutiert wird, ob man den Social Media Fuzzi/Verantwortlichen („der macht so komisch Projekte“) hinschicken soll. Mir ist es rätselhaft, warum man 2.000 Euro für teure Unternehmenskonferenzen ausgibt und sich dort eh nur im eigenen Kreis dreht, statt mit den Nachfragern zusammenzukommen.
Das, was Honda im Interview beschrieben gemacht hat, ist goldrichtig!
Bauen sie in Japan eine Niederlassung auf
Ihr glaubt mir das nicht? Machen wir ein Gedankenspiel. Ihr seid Chef der Firma X und wollt in Japan einen weiteren Absatzmarkt aufbauen. Ihr könnt so lange wie Ihr wollt Experten einladen und Workshops abhalten, Ihr könnt so viele Bücher und Dokus anschauen wie Ihr wollt. Ihr werdet keine Chance in Japan haben. Solange Ihr nicht Leute vor Ort habt, die Japan atmen und verstehen. Ihr müsst vorher nach Japan. Ihr müsst dort leben. Bevor Ihr auch nur annähernd einen weiteren Schritt macht. Alles andere ist Harakiri und bloße Geldverschwendung.
Sponsoring
Ein abschließender Punkt: Firmen sollten nicht nur Barcamps sponsorn (mit Money, Logistik und Räumen), sie müssen sie sponsorn. Um Gelegenheiten zu schaffen und zu bekommen, den Blick in die Zukunft überhaupt erst zu erhalten. Es ist bis heute keine Selbsverständlichkeit, dass Barcamps stattfinden. Die Suche nach Sponsoren ist beschwerlich, alleine schon einen Raumsponsor zu finden, wo das Barcamp dann stattfinden kann ist immens schwer. Für mich handelt ein Großteil der deutschen Wirtschaft völlig verantwortungslos, Ihren Mitarbeitern und allen ihren Stakeholdern gegenüber. Es ist verantwortungslos, sich dieser Chancen dermaßen zu verschließen. Verantwortungslosigkeit rührt von Ahnungslosigkeit, sich nicht genügend über die Konsequenzen des Internets zu informieren und wo man das Internet am besten atmen kann.
Pic by nasa hq photo
17.11.2010 um 15:58 Uhr
Du sprichst mir aus dem Herzen. Ich finde es immer wieder schade wie sehr man als Mitarbeiter im Unternehmen dafür kämpfen muss zu einem barcamp zu „dürfen“.
Die „kostet ja nix also kann es auch nix taugen“ Mentalität ist hier noch viel zu verbreitet, dabei ermöglichen insbesondere Themencamps eine Kombination aus Workshops, Erfahrungsaustausch und Kontakten, die man so nicht auf einer 1000€ Konferenz bekommt, allein schon wegen der besonderen „barcamp-Atmosphäre“.
Ich hoffe aber einfach mal drauf das Deutschland hier mal wieder ein paar Jahre hinterher ist und die Erkenntnis noch kommt – besser spät als nie.
17.11.2010 um 16:44 Uhr
Erstens: Stimmt. Und das was Vivian sagt. Und zweitens: Es hängt halt an der Frage, ob man „uns“ als Vorreiter oder als Spinner einordnet. Ich habe da so eine Theorie…
17.11.2010 um 21:13 Uhr
Hallo Robert,
kann Deiner These nur zustimmen, das Barcamps eine Projektionsfläche der Internetzukunft sind. Für mich war es eine grandiose Erfahrung!
Mich hat auch der respektvolle Umgang miteinander beeindruckt. Wir wurden als Noobs direkt aufgenommen und integriert.
Auf die Besonderheit der „Wissensvermehrung durch Wissensteilung“ hatte uns @Franz schon vorbereitet. Es sollte jedem einleuchten, dass es eine „Übervorteilung“ wäre, nur das Wissen anderer aufzusaugen ohne etwas dafür zu geben.
@Nicole: Mir sagt das freiwillige Sponsoring auch mehr zu. Die Anerkennung der geballten BarCamp-Power wird dadurch besser zum Ausdruck gebracht.
David und ich sind definitiv Barcamp-begeistert. Ich habe mich schon zum VideoCamp ( http://www.videocamp.de/ ) in Essen (19.-29. Feb 2011) eingetragen. Zuvor muss ich aber erst mal die Informationen, Tipps und Tricks von letzter Woche umsetzen :-)
Viele Grüße
Aaron
19.11.2010 um 00:20 Uhr
Sehr richtig Rob. Aber ich glaube, der Wind beginnt sich gerade zu drehen.
Seit ich von ori10k wieder da bin, wurde ich schon einige Male in Gesprächen und Beratungen von Firmenvertretern gefaragt, wie sie denn selbst ein Barcamp ausrichten könnten, oder ob es schwer sei, da als Sponsor „rein“ zu kommen.
Mein Gefühl sagt mir, 2011 wird ein sehr gute Jahr für Barcamps.