Wut von oben
Die Ereignisse in England wurden im Netz hinlänglich diskutiert, und werden es auch weiterhin. So kann man u.a. manch eine Position lesen, dass man auch Verständnis für den einen Rand der Gesellschaft haben müsse. Als Cameron gestern verkündete, man überlege gar Maßnahmen, wie man die elektronische Kommunikation der Randalierer unterbinden könne, kamen naturgemäß die ersten „oh, no…“ der digitalen Freidenker. Wenn Euer Stadtteil nicht mehr sicher ist, Eure Kinder nicht mehr auf die Straße gehen könne, Eure Nachbarn bedroht werden, Eure Geschäfte geplündert werden, will ich Euch sehen, wo das Verständnis bleibt, wenn Ihr Euch vom Notarzt zusammenflicken lassen müsst.

So armselig und hoffnungslos die Lage der Randalierer erscheinen mag, so kriminell sie aus ihrer Lage heraus auch immer ticken mögen, es gibt keinen einzigen Grund, randalisierenden Kriminellen gegenüber Verständnis zu zeigen. Schwäche im Geist, Gier und Rücksichtslosigkeit, ein Mangel an Disziplin und Moral, ein Mangel an Respekt vor dem Gesetz und der Unversehrtheit des Besitzes und des Körpers von Mitmenschen kann nicht akzeptiert werden. Nur weil man arm ist, muss man den Neandertaler spielen? Wo steht das geschrieben? Wo steht geschrieben, dass man sich mit Gewalt das holen kann, was man im vermeintlich tristen Alltag auf zivilen und rechtsgetreuen Wegen nicht bekommen kann? Wo steht geschrieben, dass sie sich andere Werte als unsere herausnehmen können, für die wir als Gesesllschaft gekämpft haben, um Frieden und Sicherheit zu genießen? Soll etwa erneut der Stärkere die Geschicke bestimmen? Recht und Ordnung durch Willkür und Gewalt ersetzt werden? Wer nicht in der Lage ist, diese eherne Grenze zu akzeptieren, mutwillig diese Grenze überschreitet, kann weder Verständnis noch Entgegenkommen erhoffen.

Wut von unten
Geht es Euch gut in Euren fetten Autos, warmen Wohnungen, besten Klamotten, gut bezahlten Jobs, wohl behütet von Mama und Papa aufgewachsen? Ich habe kein Auto, keine warme Wohnung, trage alte Klamotten, niemand will mir einen Job geben, Mama und Papa sind besoffene Wichser, was soll ich da zu Hause? Niemand kümmert sich um uns, niemand will mit uns zu tun haben. Im Gegenteil. Die Bullen behandeln uns wie den letzten Dreck. Euch gehts gut, ihr Sesselfurzer? Ihr beklagt das, was wir getan haben? Welches Recht habt Ihr, über uns zu urteilen? Ihr gebt uns keine Chance. Ihr sagt uns, wir müssten die Schule besuchen, um was zu werden. Was werden? Wir werden keine Jobs bekommen. Es gibt keine. Ihr sagt uns, wir könnten auch das haben, was Ihr habt. Was soll ich haben, wenn ich es auf Eurem Weg nicht bekommen kann? Ihr sagt uns, dass man friedlich zusammenleben muss. Eure Bullen lassen uns nicht friedlich leben. Ihr schaut uns angewidert an, ihr geht uns aus dem Weg, ihr wollt uns nicht mal sehen. Wer in Eurer Welt nichts ist, existiert nicht. Euch kümmert es einen Scheiß, wie es uns geht. Ihr kümmert Euch um sich selbst, nicht um mich. Ihr seid nicht besser als wir.

Ich sag Euch was. Ich scheiße auf Euch und Euer Gelaber. Ihr lasst es Euch gut gehen, während wir auf der Straße verrecken. Wir kämpfen jeden Tag. Wenn du schwach bist, gehst du unter hier. Aber das versteht Ihr nicht, wollt Ihr nicht verstehen. Was juckt es Euch? Nichts. Ich habe jedes Recht auf dieser Welt, als Mensch zu leben. Genauso wie ihr. Und wenn ich es nicht so bekommen kann, nehme ich es mir. Ihr gebt mir keine Chance, also nehme ich mir das, was mir genauso zusteht. Eure Gesetze? Sind nicht meine Gesetze. Sie beschützen Euch, mich nicht. Ihr tut großspurig daherkommen, wie kriminell wird sind. Wir sind kriminell, weil ihr uns dazu gemacht habt.

Ich
Ich verstehe die Wut aufeinander sehr gut. Ich verstehe, dass es die gibt, die eine Chance hatten und genutzt haben. Ich verstehe, dass es die gibt, denen man wenig Chancen eingeräumt hat, sie keine nutzen konnten. Wir alle wollen etwas Glück, Zufriedenheit, Wohlstand, nicht viel, wenigstens etwas. Ich kann die nicht verdammen, die in einer Umgebung aufwachsen, die sie zu dem machen, was sie sind. Sowohl als auch. Wir kennen keine ehernen, uns angeborenen Verhaltensweisen. Wir kennen nur das, was uns umgibt. Genauso wenig, wie ich den „Reichen“ verdammen kann, kann ich den „Armen“ verdammen.

Ich verstehe auch, dass jeder Mensch von sich aus Anspruch darauf hat, als Mensch behandelt zu werden. In Würde zu leben, frei von Gewalt und Ungerechtigkeiten. Wenn er das nicht hat, wird er entsprechend reagieren, sich wehren, auf seine Art sich das holen, was ihm zusteht. Die einen holen es sich auf gesetzestreue Art, werden dafür bewundert, egal wie rücksichtslos sie dabei vorgegangen sind, andere holen es sich auf ungesetzliche Art, werden dafür nicht bewundert, aber verfolgt und müssen sich jeden Tag nach hinten umschauen.

Verstehe ich die Ungerechtigkeit, dass Wenige viel haben (in Deutschland sollen die oberen 10% rund 60% des Vermögens innehaben, während das untere Zehnt nicht mal annähernd auf 10% kommt)? Verstehe ich, was dann passiert, wenn zunehmend Mitmenschen frustriert sind? Und zu Mitteln greifen, die wir als Gesellschaft im Grunde laut Gesetz ablehnen?

Es gibt kein Gesetz, das die Art von Gewalt verdammt und maßregelt, die die Gesellschaft allgemein ausübt. Indem sie Mitmenschen an den Rand bringt, sie dort verharren lässt. Indem es ihnen nicht das Mindestmaß an gefühlter Anspruchserfüllung auf das Leben als vollwertiger Mensch in unserer Gesellschaft zugesteht. Wir üben Gewalt aus, indem wir über die Medien diejenigen verherrlichen und bewundern, die man als Erfolgsmenschen bezeichnet. Wir halten die hoch, die es zu etwas gebracht haben. Wir verleihen ihnen Orden, Macht und Ämter. Wir üben Gewalt aus, indem wir das Haben und Konsumieren zu einer Religion hochgezüchtet haben. Wir üben Gewalt aus, indem wir Kindern in der Schule bereits beibringen, besser zu sein als Dritte. Wir üben Gewalt aus, indem wir den Wert derer, die dem Idealbild nicht entsprechen, keinen Erfolg haben, wenig haben, keinen Wert beimessen.

Wundert es mich, dass wir Wut bei denen erzeugen, die sich auf der Verliererstraße fühlen? Mich wundert das nicht mal ansatzweise. Das, was in England passiert war, ist weder englisch noch britisch. Es ist menschlich und findet sich an jedem Punkt dieser Erde wieder.

Wir züchten Menschen heran, die das Ich vor das Du stellen. Wir halten das Bild des Menschen hoch, der sich nach oben boxt. Und wundern uns, dass wir das ernten, was wir züchten. Wundern uns und fragen uns, wie es sein kann, dass das Ich mehr zählt als das Du. Ob das Ich auf legale oder illegale Art seinen Platz in der Gesellschaft finden will, ist menschlich gesehen ein Produkt dieser Züchtung.