Ich bin auf ein bizarr anmutendes Thema gestoßen, das sich neulich in Ungarn abgespielt hat. Siehe Spiegel Online „Regierung nennt Roma-Abtransport Ausflug“ (Label „Rechtsextreme in Ungarn“) oder Krone.at „Ungarn: Rechten-Miliz vertreibt Roma mit Trainingslager„. Vornweg: Für mich persönlich geht das gar nicht, wenn Bürger eine Art von Miliz bilden, Uniformen tragen und/oder Alternativpolizei spielen. Ich will aber bei diesem Themenkomplex auf was anderes hinaus.
Ich schätze mich glücklich, nach Deutschland als Gastarbeiterkind ausgewandert zu sein. Hier habe ich meinen Lebensmittelpunkt gefunden und geschaffen. Nun überlege ich mir, was wohl passiert wäre, wenn ich in der Schule, im Studium und später als Jobsuchender nicht so viel Glück gehabt hätte? Was wäre passiert, wenn ich als Jugo in welcher beliebigen Form auch immer „geoutet“ gewesen wäre, mich ausschließlich mit Landsleuten befreundet hätte, mich bewusst aufgrund einer angenommenen Benachteiligung von „den Deutschen“ abgegrenzt hätte?
Dass ich mich nicht bewusst abgegrenzt habe, liegt zum einen an meinen Eltern, die keinen Wert auf Jugo/Deutsch-Unterteilungen gelegt haben. Ich wurde nicht animiert, deutscher als deutsch bzw. jugoslawischer als jugoslawisch zu denken. Ebenso ist der – geschichtlich gesehen – Kulturkreis meines Geburtslandes nicht so weit weg vom deutschen Kulturkreis, was die Unterschiede in Sprache, Religion, Kleidung, usw angeht. So wurde es mir insgesamt nicht schwer gemacht, in Deutschland aufzuwachsen. Will sagen, ich wurde nie als Jugo angesehen. Ich habe mich nicht abgegrenzt, wurde umgekehrt auch nicht ausgegrenzt.
Wieso wir Menschen überhaupt ausgrenzen und abgrenzen? Das Schaffen einer Gesellschaft ist ein stetes Austarieren von Ansichten und Vorstellungen des Zusammenlebens. Das fällt uns schwer genug und dauert lange, bis spürbare Änderungen akzeptiert werden. Jegliche, empfundene Abweichung von diesem beweglichen Gleichgewicht wird als Störung empfunden. Man muss erneut den langen Prozess des Austarierens in Sprache, Verhalten, Vorstellungen durchlaufen. Niemand sagt, dass eine Ansammlung von abertausenden Menschen ein einfaches Spielchen sei. Die Unzahl von Verhaltensnormen und kaum fassbaren Grenzen ist selbstredend. Es scheint uns Menschen aber sozial innezuliegen, unbedingt einer Gruppe angehören zu wollen, um soziale Sicherheit zu genießen (statt sich archaisch gedacht mit der Keule auf die Köpfe zu schlagen). Wo fängt die Gruppe an, wo hört sie auf?
Wenn ich als „Jugo“ darauf insistieren würde, ein Jugo in Deutschland zu sein, würde ich es nicht nur mir, sondern meinem gesamten Umfeld schwer machen. Würde alle Jugos darauf insistieren, entsteht das Bild einer Gruppe von anpassungsunwilligen Juog-Individuen. Mehr noch, jeder „Jugo“ würde mit seinem kompromisslosen Gruppenverhalten dem aufbruchbereiten, kompromissbereiten „Jugo“ schaden. Dabei gilt anscheinend, dass wenige Zugehörige einer Gruppe der gesamten Gruppen schaden, wenn sie sich besonders abgrenzen. Gruppen, die nicht gesamtheitlich bereit sind, besonders abgrenzungsaffine Verhaltensweisen öffentlich aufzugeben, schaden nur sich selbst. Aber wie gesagt, aus seinem Verhaltensmuster auszubrechen, ist anscheinend immens schwer.
Zu erkennen und zu akzeptieren, dass Abgrenzung keine Antwort sein kann, man dabei sich selbst ein Stück weit aufgeben und anpassen muss, um mehrheitsgesellschaftlich anerkannt zu sein, fällt dem einen schwerer als dem anderen. Das ist wie oben an meinem Fall geschildert eine Frage des Elternhauses, eine Frage der sozialen Umgebung, eine Frage der eigenen Kultur, eine Frage der sozialen Lage und auch vor allen Dingen eine Frage des Ichs. Mir selbst war Gruppendenken nie sonderlich zu eigen, was in meiner Natur liegt. So fiel es mir nicht schwer, Robert zu sein, ich zu sein, wie ich das bin, dabei nicht nach Selbstfindungsantworten über die Definition einer Nationalzugehörigkeit zu suchen. Wenn etwas nicht lief, dann habe ich nicht gefragt, ob ich zu wenig deutsch, zu viel deutsch, zu wenig jugo, zu viel jugo sei.
Wenn daher jemand zu mir kommt und dabei meint, mir explizit sagen zu müssen, dass er CDUler, Grüner, Homosexueller, Türke, Jugo, Roma, Katholik, Jude, Moslem, what ever sei, würde ich mich fragen, wozu sich derjenige dergestalt abgrenzen und einordnen lassen will.
Die Moral der Geschichte? Ich habe keine. Ich sehe lediglich, dass es Menschen in allen Kulturkreisen schwer fällt, sich sowohl nicht abzugrenzen wie auch andere nicht auszugrenzen, sobald man auf Gruppierungen stößt, die das Gleiche beharrlich tun, sich abzugrenzen und andere auszugrenzen. Die Suche nach dem gesellschaftlichen Gleichgewicht ist bis heute eine Gruppierungsfrage aufgrund unserer mangelnden Fähigkeiten, andere so leben zu lassen, ohne sich selbst daran zu stören und umgekehrt.
23.04.2011 um 14:18 Uhr
Was du da beschreibst hat ja durchaus etwas mit Identitätsbildung zu tun. Wir all haben eine Identität, die sich auf verschiedenen Wegen ausbildet. Was viele nicht wissen ist, dass Identität nicht nur ein reiner internaler Prozess ist – es ist nicht so, dass es alleine reicht, sich selber für oder gegen etwas zu entscheiden. Auch die Schubladen, in die man von außen gesteckt wird, spielen dabei eine Rolle. In jungen Jahren vermutlich mehr, als es das später tut.
Ehrlich gesagt musste ich dennoch schmunzeln, als ich deinen Beitrag gelesen habe. Es hört sich ja so „leicht“ an, das mit dem Nicht-Ausgrenzen und Nicht-Abgrenzen. Ich selber habe auch Migrationshintergrund und hatte einen Elternteil, der eher fürs Nicht-Abgrenzen und Nicht-Ausgrenzen stand, und einen, der es ganz anders gehandhabt hat. Es ist für ein Kind gar nicht leicht, in einer solch schizophrenen Konstellation aufzuwachsen und seinen eigenen Weg zu finden. Insofern kann ich dir nur entgegen halten, dass du leicht reden hast.
23.04.2011 um 17:48 Uhr
Was du sagen möchtest, kann ich sehr gut verstehen. Ich komme allerdings zu einem anderen Schluss, als den, welchen du gezogen hast. Ich betone meine multiplen Identitäten, und fühle mich tatsächlich nicht Deutsch, obwohl ich sehr wohl Deutsche Züge in mir trage.
Dagegen fühle ich mich aber als durch und durch Hamburger Jung. Und ich betone das. Ich fühle mich nämlich alleine in Hamburg wohl… Überall anders bin ich fremd und ich bekomme dieses Fremdsein auch zu spüren.
Rassismus und Ausgrenzung sind Erfahrungen, die man dann eben nicht so einfach abtun kann. Vor allem du als Blogger müsstest doch selbst sehen, dass es klare Vorurteile gegenüber bestimmten Minderheiten gibt, und dass diese Vorurteile dazu geführt haben, dass es keine Willkommenskultur mehr in Deutschland gibt, sondern mehr eine Entwicklung, die einen Großteil der Bevölkerung sagen lässt: „Ihr seid hier nicht mehr Willkommen.“
Deshalb finde ich es für mich gerade wichtig mich von diesen Menschen abzugrenzen. Ich betone es gerne, und ich mache das absichtlich und bewusst, weil ich mich eben nicht als Teil der mehrheitlichen Gesellschaft verstehe…
Ich bin aber Blogger… Denn ich sehe mich als ein guter Teil der Blogosphäre ;)
26.04.2011 um 23:10 Uhr
Das scheint mir das wichtigere zu sein – Grenzen (zwischen Gruppen) anerkennen und respektieren und sie nicht zugunsten der eigenen Gruppe aufweichen wollen; diese Gefahr sehe ich jedenfalls. Man kann sie aber ausblenden um sich mit Menschen aus anderen Gruppen zu beschäftigen. Zum Glück gibt es ja Menschen die zu mehreren Gruppen gehören. Man ist nicht nur Deutscher, oder Jugo, sondern auch Mensch, Blogger, Mann, Frau, Fußballfan, Hamburger, Ruhri etc. etc. Sieht man sich nur und ausschließlich als Angehöriger einer einzigen Gruppe, hat man vielleicht ein Problem…