Gestern sinnierte ich über Tunesien und fragte mich, welche Rolle das Internet wohl beim Umsturz gespielt hat. Zuviel wurde im Netz vermutet, dass es eine tragende Rolle und mal gar keine Rolle gespielt habe. Dementsprechend wollte ich nachhaken und habe im Netz herumgefragt, ob jemand jemanden kennt, der etwas dazu sagen kann. So kam über Timo Heuer (danke!) der Tipp, mich an Kerstin Grießmeier zu wenden. Kerstin hat spontan zugesagt, meine Fragen zu beantworten. Also legen wir am besten gleich mit dem Interview los:

1.Stelle Dich bitte kurz unseren Lesern vor
Ich heiße Kerstin Grießmeier und betreibe den Newsblog nah-ost.info, in dem ich Medienstimmen aus dem Nahen Osten zu Wort kommen lasse, um die Entwicklungen dort nicht erst dann zu zeigen, wenn es irgendwo kracht. Ich bin studierte Journalistin und Arabistin und habe schon in mehreren Arabischen Ländern wie Syrien, Oman und dem Jemen gelebt. Mein Volontariat habe ich bei der taz gemacht und schreibe auch noch ab und zu dort. Derzeit wohne ich in Hamburg.

2. Hat das Internet eine tragende Rolle vor und während des Umsturzes gespielt?
Ich habe schon gelesen „Twitter habe diesen Umsturz ermöglicht“ das halte ich für übertrieben. In Tunesien gingen vor allem Studenten auf die Straße, hochgebildet aber ohne wirkliche Perspektive. Diese Wut und der Wunsch nach Reformen und Demokratisierung entstand nicht durch das Internet. Proteste, vor allem dann wenn sich durch steigende Preise die Situation für viele Menschen verschlechterte, gab es auch vor dem Internetzeitalter. Trotzdem kam dem Internet als Kommunikationsplattform eine Katalysatorrolle zu.

3.Wie hat sich das konkret geäußert?
Die Nachricht vom Selbstmord des verzweifelten Gemüseverkäufers mit Universitätsabschluss verbreitete sich von Anfang an über das Netz. Das Internet hat sicherlich die Kommunikation unter den einzelnen Protestierenden vereinfacht und vor allem beschleunigt, deshalb breitete der Protest sich rasch über das ganze Land aus. Man dar aber nicht vergessen, dass vor allem Studenten auf die Straße gingen – also eine gesellschaftliche Elite, die Netzanschluss hat und sich darin zu bewegen weiß.

Auch erschwert das Internet den Regimen, Informationen zu verheimlichen. Fotohandys gehören auch in arabischen Länder zur Grundausstattung hipper städtischer Jugendlicher. Früher war es einfacher, die Medien von einer zentralen Stelle aus zu zensieren, weil die traditionelle Medienlandschaft in den meisten Ländern sehr überschaubar und oft auch staatlich organisiert war und ist. Zwar kann man auch heute noch Facebook und Twitter sperren, wie das auch in Tunesien geschah. Das Netz bietet dann jedoch andere Wege, sich auszutauschen. Die User in der arabischen Welt sind da teilweise sehr kreativ.

4. Glaubst, dass die Bürger anderer arabischer Länder (Ägypten, Marokko, Lybien, …) sich ein Beispiel an Tunesien nehmen?
Die arabische Welt schaut derzeit sicherlich auf Tunesien. Die Strukturen in den genannten arabischen Ländern sind jedoch sehr unterschiedlich. In Lybien herrscht beispielsweise eine sehr rigide Zensur, in Ägypten ist die Opposition gegen den Präsidenten stark durch die Muslimbrüder organisiert, in Algerien gab es bereits Proteste, der Jemen hat riesige innenpolitische Probleme, aber ein relativ freie Presse.
Das Problem einerseits alte despotische Herrscher zu haben und gleichzeitig viele gebildete junge Menschen ohne Perspektive hingegen ist überall ähnlich. Der Sturz Ben Alis hat sicherlich so einige Herrscher erschreckt und vor allem bei jungen Menschen die Hoffnung auf Reformen geweckt. Die Frage ist, ob dieser Effekt jedoch langsam abebbt, ohne dass sich etwas ändert. In Teheran kam es trotz heftiger Proteste der im Sommer 2009 auch nicht zum Machtwechsel.

5. Was hat das Internet verändert?
Wie gesagt, Protest, der über das Netz organisiert ist, betrifft vor allem gebildete junge Menschen in den Städten. Diese setzen sich auch in anderen Ländern derzeit aktiv mit den Ereignissen in Tunesien auseinander und fragen sich, ob das auch bei ihnen passieren könnte. Wael Abbas, ein prominenter ägyptischer Blogger, twittert derzeit ausgiebig über Tunis (@waelabbas). Die Kehrseite der Medaille ist, dass autoritäre Regime kritische Blogger beobachten. In Ägypten büßten einige ihren Einsatz im Internet schon mit mehrjährigen Haftstrafen. Dass bestimmte Seiten zentral blockiert werden, ist ebenfalls an der Tagesordnung.

Vielen Danke, Kerstin, für das Interview!

Zusätzlich: Siehe auch den Bericht auf Heise, der auf die Rolle des Internets eingeht, zudem die umfassenden Maßnahmen der ehemaligen Regierenden aufzeigt, Herr der Kommunikationslage zu werden.