Ich habe mir das Späßle gemacht und in die Deutschen Blogcharts Archive reingeschaut. Zur Erklärung: In den Charts werden die 100 am meisten verlinkten Blogs gelistet, die innerhalb eines halben Jahres von anderen Blogs am meisten verlinkt wurden. Jens Schröder erstellt diese Charts auf Wochenbasis seit 2006 und archiviert die Charts.

Ich habe den Stand zum Beginn eines jeweiligen Jahres (Januar 2006, 2007, 2008, 2009, 2010) zu Grunde gelegt (siehe Archive). Und die Anzahl der Links pro Blog aufsummiert. Beispiel Januar 2010:
1. Netzpolitik: 1.133 Links
+ 2. Spreeblick: 795 Links
+ …
+ 100. Radio Utopie: 84 Links
= Summe Links

Was ergibt sich für ein Verlauf seit Januar 2006?
Blogchartsentwicklung
Antwort: Die Blogs aus den Top 100 Charts sind auf Basis der Verlinkungen innerhalb (!) der Blogosphäre auf dem Stand vor 2006 angekommen (ältere Daten liegen mir nicht vor). Vor 2006! Hallo? Vornweg: Ich leite aus dieser Entwicklung der Top 100 Charts auf die gesamte, deutsche Blogosphäre ab. Ältere Analysen von Themenblogs außerhalb der Top 100 Charts zeigen nämlich ähnliche Bilder auf.

Wieso Links, was ist daran so wichtig, außer dem SEO-Gedanken?
Luca hat mich via Kommentar auf eine Blog-Parade von Blögger.at verwiesen, in der auf die Rolle der Links eingegangen wird. Zitat:

Wir leben in einer Zeit, in der Aufmerksamkeit als Währung dient und Links ein wertvolles Gut sind. In der Blogosphäre übernehmen sie die Rolle eines Verkehrsnetzwerkes, das Leser zu weiteren Informationen und Wissen hilft indem es Verbindungen zwischen den Beiträgen erzeugt. Dennoch hat die Kultur des Verlinkens unter Bloggern abgenommen.

Analyse

Wir hatten den Peak im Jahr 2008 erreicht. Seitdem geht es stetig bergab. Ist das was Schlimmes? Abwarten. Erst einmal die Gründe, die vielfältig sind:

1. Mit Aufkommen modernerer Social Networks wie Facebook und Twitter haben sich Verlinkungen auf diese Seiten wohl zu einem guten Teil verlagert. Es ist heute ein Leichtes, via Status-Update Quellen zu nennen. Früher hatte man stattdessen was zur Verfügung? Blogs oder aber die Foren. Linkzählmaschinen wie Technorati oder Icerocket (das Jens mittlerweile benutzt, um die Charts zu erstellen) analysieren rein die Verlinkungen aus Blogs heraus, nicht aber auf Twitter oder anderen Social Networks. Hier muss der Mechanismus erweitert werden, um die tatsächliche Gesprächssphäre abzubilden und um die angenommene Verlagerung -von wo aus verlinkt wird- aufzuzeigen! Beispiel: Eines der bekanntesten Blogs weltweit, Mashable.com, generiert extrem viele Retweets (teilweise weit über 1000). Dies bildet Icerocket jedoch nicht ab!

2. Mein gefühlter (!) Eindruck ist, dass mit dem Aufkommen des „Status Updates“-Mechanismus und auch sehr einfach zu bedienender Blogsysteme wie Posterous und Tumblr die Gesprächsfaulheit angewachsen ist. Es handelt sich mehr um Fingerzeiggespräche, wenn man denn Tweets oder Posterous-Beiträge überhaupt als Gespräch bezeichnen mag. Die eigentlichen Gespräche, das Weiterführen von Gedanken und das Diskutieren per se scheint seit Aufkommen dieser WischiWaschi-Tools zwischen den Blogs abgenommen zu haben. Mehr noch, es riecht mir oftmals zu sehr nach „ich poste mal ein Status Update, um mehr Friends und Follower zu bekommen“, statt der Suche nach einem echten Dialog. Ganz nach dem Motto „ich zeige nur kurz was auf, die anderen sollen sich ihre Gedanken machen und gegebenenfalls äußern“. Das wäre in der Tat ein echter Rückschritt. Ein Fortschritt sind diese Fingerzeig-Systeme natürlich sehr wohl, tragen sie doch wesentlich zu einem schnelleren Fluß von Informationen zwischen den Nutzern bei. Wenn dem so ist, öffnet sich der klassischen Presse ein ganzes Feld von Deutungshoheiten, die sich um die Analyse kümmern. Blogs (mit welcher gesamtheitlich Reichweite auch immer) als neue und ergänzende Form der Deutungs- und Leitmedien verlieren damit per se an Kraft und Bedeutung. Sie sind damit schwächelnde Ankerpunkte.

3. Aufgrund der Vielzahl an Eifersüchteleien, schwachsinnigen Diskussionen ob der Rolle der A-Blogs und anderen Eitelkeiten ist es im Neiderland Deutschland sichtlich nicht möglich, kraftvolle, zusammen arbeitende Blognetzwerke (Blogger, die sich stetig austauschen, zusammen abstimmen) auf die Beine zu stellen, um eine Gegenöffentlichkeit zur zunehmend kostenorientierten Presselandschaft zu schaffen.

Ergo?
Ich kann es nur vermuten, dass sich das Bild der deutschen Blogosphäre abgeleitet aus den Top 100 Charts ähnlich verhält. Was im Großen passiert, wird auch im „Long Tail“ passieren. Ich persönlich fände es extrem schade, wenn wir zunehmend mundfaul, stattdessen fingerzeigfreudig werden. Der Austausch von Gedanken trägt ungemein zu einer Weiterentwicklung der Gesellschaft auf allen Ebenen bei. Blogs als Ankerpunkte von Personen würden damit ihre potentielle Rolle verlieren, Menschen und damit Erfahrungen zusammen zu bringen und Entwicklungen zu fördern.

Updates:
– siehe Artikel „Welche Bedeutung haben Blogs in Deutschland?“ auf Hingesehen.net