Tja, nun habe ich ein halbes Jahrhundert erlebt. Die 60er habe ich wohl kaum bewusst wahrgenommen, bin ich doch erst 66 zur Welt gekommen. Machen wir daher einen Sprung in die 70er.

1970 -1979

Die 70er Jahre waren sozusagen meine ersten „deutsche-Jahre“, da ich 1970 nach Deutschland kam. Daran kann ich mich schon etwas besser erinnern. Am Rande: Ich müsste lügen, würde ich behaupten, ich hätte kulturelle Umstellungsprobleme gehabt. Ja, die Deutschen waren eben deutsch, Jugos waren Jugos, und kommunistisch dazu. Ach was! Da sich das aber im Alltag mir nie am Verhalten meiner Umgebung aufzeigte, war mir das politische System völlig wumpe. Es war die Ära von Helmut Schmidt, Franz Josef Strauß, aber auch eines gewissen und aufstrebenden Helmut Kohls. Interessant fand ich es dennoch. Warum das? Mein Vater kommentierte die schon damals üblichen TV-Diskussionsrunden mit Eifer. Er durfte zwar nie wählen, was aber nicht hieß, dass er kein Interesse am politischen Gebahren der Deutschen hatte. Insbesondere hatte er Strauß im Visier, den er für einen aufgeblasenen Dummschwätzer hielt und nie über den Weg traute (die Geschichte gab meinem Vater letztlich Recht, als bekannt wurde, wie bestechlich Strauß und damit äußerst charakterschwach war). Sein großer Held war aber Schmidt. Den fand er herrlich furztrocken und staatsmännisch. Das hatte irgendwie bis heute auf mich abgefärbt. Wer viel große Worte schwingt, dem traue ich schlichtweg nicht. Wer den Ausgleich sucht und abwägt, dem höre ich schon eher zu. Ja, Politiker waren damals tatsächlich so etwas wie meine inneren, erzieherischen Sparringspartner.

Das vordringliche Thema war glaube ich die Ölkrise (Wirtschaftskrisen kommen und gehen), primär aber ging es immer wieder um die RAF und natürlich den Kalten Krieg zwischen dem Westen und Ostblock. Das Szenario hochgerüsteter Nationen war ein täglicher, medialer Begleiter. China war noch weit davon entfernt, eine Nummer auf der Weltbühne zu sein. Das war es auch schon mit meinem politischen Umfeld am Rande meiner Wahrnehmung. Inklusive den Geschehnissen rund um die RAF, was mir mehr wie ein Krimi denn eine ernste Sache erschien. Wie dem auch sei. Kommen wir zu meinem unmittelbaren Umfeld.

In den 70ern besuchte ich den Kindergarten, erlernte dort zugleich die deutsche Sprache. Ich verstand zunächst alles, dann sprach ich von einem Tag auf den anderen reinstes Deutsch, insofern das einem Kind möglich ist. An das Gesicht meiner fassungslosen Kindergärtnerin kann ich mich noch recht gut erinnern. Ach ja, kurz vor der Einschulung erlernte ich das Lesen. Warum? Ich konnte es nicht leiden, die „Hörzu“ nicht zu verstehen. Denn mein einziger Zugang zum medialen Geschehen war die Glotze. Die aus wenigen Programmen des öffentlichen Rundfunks bestand. Ich fand Serien wie Pantau, Kung Fu, Star Trek, Kojak und all die Comic-Sendungen mega! Also musste ich wohl oder übel Buchstabe für Buchstabe im TV Programmheft enträtseln. Meine Mutter war quasi meine Lehrerin, die mir dabei half, diese komischen Symbole zu entcodieren.

Was umgab mich eigentlich sonst noch? Computer gab es keine. War es Zufall oder Glück, dass ich eines Tages – da war ich schon im Gymnasium – die Stadtbibliothek um die Ecke unserer Wohnung entdeckte? Ich glaube, ich habe mich dort förmlich wie ein Bücherwurm durch all die wunderschönen Regale im EG und 1. OG durchgefressen. Meine Mutter hielt mich auch nicht für pervers, als ich erstmalig anatomische Bücher mit nach Hause schleppte (Medizinisches fand ich schon damals einen echten Kracher und war total fasziniert davon). Ich vermute, das wäre heute nicht mehr erlaubt, einem Kind Monsterleichenbücher ausleihen zu lassen. Lachen musste ich, als ich Jahre später im Geschichtsunterricht (es nannte sich glaube ich Sozialkunde?) entdeckte, dass ich auch von dem Winston Churchill Bücher gelesen hatte. Er sei Premieminister Englands gewesen und hat also Bücher geschrieben, oha! Die übrigens unfassbar gut die Geschichte des alten Englands vermitteln.

Ich lebte also eine Art von Wurm-Sein? Gott bewahre! Ich war zwar ein Brillo, aber Interaktion mit Menschen war mir nicht fremd. Klar entdeckte ich schon früh die lange Schachecke an der Schaufensterscheibe der Bibliothek entlang. Ich mochte die Figuren, den Aufbau des Spiels, die elegante Zugbewegung (einen echten Schachprofi erkennst man sofort daran, wie er die Figuren greift und elegant statt dumm-plump eine gegnerische Figur schlägt) und den Kampf des Geistes. Mache ich die Augen zu, sehe ich sie alle da noch sitzen. Vom Landstreicher über den „streberhaften“ Jugendschachmeister Frankfurts bis hin zu den weißhaarigen Rentnern in ihren besten Anzügen. Meine Lehrquelle waren die vielen Schachbücher, deren Inhalte ich sogleich am Schachtisch umsetzen konnte. Mal mit Erfolg, mal mit großem Misserfolg, je nach Gegner. So kam es wohl, dass mir bis heute Bibliotheken wie ein Heiliger Ort des Wissens und der inneren Ruhe erscheinen. Immer, wenn ich tolle Bilder von wunderschönen Bibliotheken sehe, löst es ein Wohlgefühl aus.

Kaum vorstellbar heute, aber Musik war ähnlich zum Schach etwas Besonderes. Wenn wir schon auf die anderen Vergnügungen zu sprechen kommen. Der Gang in den Plattenladen, die durchaus an Bibliotheken erinnerten. Der Geruch. Das Wühlen in den Regalen. Die wunderschön designten Cover. Das Hineinhören. Zu Hause dann die wundervolle Entnahme der LP, das Abwischen und zeremonielle Auflegen auf den Plattenteller. Zurücklehnen und Genießen. Heute? Eine total beliebige Sache. Streamen, zappen, hören und das auch noch nebenbei. Dinglich ist daran nichts mehr. Die Erotik der Musik ist mir entschwunden. Sicher, ein weiteres Vergnügungsquell waren Tonbandkassetten, die dienten selbstverständlich zum Aufnehmen der Hitparaden, die einmal wöchentlich in einem Radiosender abgespielt wurden. Wie oft haben wir uns immer geärgert, wenn der saublöde Radiomoderator ins Lied hineinquatschte? Meine Güte!

Bücher, Musik und TV. Das waren die allgemein gängigen Ablenkungen und Vergnügungen, wenn es um medialen Konsum ging. Das wirklich etwas Besonderes darstellte, in meiner Erinnerung. Die Digitalisierung hat viel von diesem Zauber genommen. Und sie hat das Konsumieren unfassbar bequem gemacht. Ob sich das Jüngere so vorstellen können? Verstehen die mich überhaupt? Wenn etwas besonders bequem wird, reizt es denn dann noch? Wie Cheating bei einem Spiel, das seine Schwierigkeit verliert. Oder der alte Ehemann, der halt verfügbar und damit reizlos wird? Lach!

Ebenso verhält es sich mit den Zeitungen und Zeitschriften. Ich kann alte Journalisten gut verstehen, die förmlich einen Orgasmus bekommen, wie damals Zeitungen produziert wurden. Es war reinstes Handwerk! Heute? Du kannst gerne nachlesen, wie The Verge ihr 5-jähriges Jubiläum feiert. Man könnte meinen, es ist eine Zahlenwissenschaft denn eine Kunstbeschäftigung am Wort und der wunderschönen Verpackung. Zeitungen zu lesen, war mir etwas Besonderes. Heute ist es zu einem Timeline-Stream quasi verkommen. Ähnlich wie der Musikeinkauf damals und heute. Beliebig, austauschbar, überall jederzeit erhältlich. Der gefühlte Wert ist verloren gegangen. Letztlich kein Wunder. Wenn etwas beliebig verfügbar ist, dann verliert es an Zauberkraft und Magie.

Wie verhielt es sich beim Spielen? Na, Spiele eben! Meistens in dem da Draußen. Computergames gab es nicht. Dafür gab es bei mir in Frankfurt Parks. Wo sich alle erdenklichen Nationen versammelten, wir als Kizz natürlich. Unsere Eltern mussten schließlich rackern. Man traf sich nach der Schule zum Labern, zum Fußballspielen, zum Radeln, zum Verstecken, was auch immer dem Griechen, Türken, Portugiesen, Deutschen, Italiener, Jugo, Spanier, … einfiel. Heute sehe ich keine Kinder mehr in Parks spielen. Es sei denn, es handelt sich um diese Kleinkinderschauplätze, die die Eltern besetzt halten. Oder neuerdings gab es eine kurze Welle an Pokemon-Jüngern. Übrigens, ich meine mich erinnern zu können, dass ich noch vor Ende der 70er Jahre den ersten Spielecomputer zu Hause bei einem Kumpel erblickte. Den Atari 2006. Das Spiel – das im TV lief – hieß Pong! Das war eine echte Zauberkiste, allerdings nicht weiter aufsehenerregend. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es ein riesiges Gesprächsthema gewesen wäre. Fußball im Park war viel cooler. Das sollte sich mit der Welle der Heimcomputer in den 80er Jahren gründlichst ändern.

Komisch, aber mir fällt noch ein, dass Autos eine tolle Sache für uns Kizz waren. Wir liefen auf den Straßen herum, notierten und zählten die diversen Modelle. Derer es ja nicht so ungemein viele gab, damals. Dominierend war zu der Zeit der VW Käfer. Ein Mercedes war etwas ganz Besonderes. Am liebsten mochte ich aber Modelle wie Ford Taunus, Opel Admiral, Opel Manta (mein Onkel fuhr einen Knallgelben! Mitsamt Schlaghose, ausladendem Hemdkragen und gefühlter Afro-Frisur). Und ganz ganz toll fand ich den Karmann Ghia, in dem ich hin und wieder auf dem Schoß meiner Mama mitfuhr (ihre Freundin aus dem Krankenhaus fuhr uns damit nach Hause)!

Was ich noch von der Grundschule in Erinnerung habe? Ehrlich gesagt nur Snippets. Dazu gehört die Schuldirektorin, die mir eine Ohrfeige verpasste, als ich auf dem Schoß meines Freundes einschlief. Sie hatte Vertretung und ich fand ihren Unterricht lahm. Es machte Peng und ich landete vor der Tür. Wo sie mich nochmals anzischte. Tja, Eitelkeiten von Alphatierchen. Innerlich war ich eher amüsiert denn schockiert. Ich fand ihr Gezicke belustigend. Wie sie so über mir stand, sich nach vorne beugte und mit den Händen vor meinem Gesicht herumfuchtelte. Da meine Noten völlig OK waren, war mir das auch leistungstechnisch völlig wumpe. Es war dann wie immer (bezogen auf spätere Erlebnisse mit Wildmenschen): Da ich ruhig blieb und sie mir das auch noch ansah, dass ihr Getue an mir abprallte, wurde sie nur lauter. Aufgrund der typischen Bauweise der Schule hallte das herrlich. Till Eulenspiegel blitzte schon damals in mir durch. Ohrfeigende Lehrer dürften heute in Deutschland ausgestorben sein, nehme ich an? Ich bringe dieses Erinnerungs-Snippet bewusst, da es damals noch Praxis war. Heute wäre es riesiges TamTam. Was auch gut so ist. Erziehungsberechtigte haben nicht das Recht auszurasten. Nicht vor Kindern. Meine Meinung.

Eine Sache dürfte heute vielleicht anders sein: Die Kioske! Diese winzigen Buden mit einem kleinem Schiebefenster. Das waren unsere Selbstversorgerläden für allerlei Süßes. Man musste sich als Grundschüler schon etwas strecken, um einen Blick auf all die herrlichen Gummibärchen, Colafläschchen oder erdbeerartigen Bonbons mit irgendeinem weißen Zeugs innen zu erhaschen. Mit das Größte war das Stangeneis an heißen Sommertagen. 10 Pfennig kostete so ein Genussspaß Handvolles.

Übrigens, was war da mit der sexuellen Revolution der 68er-Bewegung, die ja in die wilden 70er überging? Sorry, das ging an mir vorbei. Irgendwie trugen Frauen so komische kurze Röcke, was mir natürlich durchaus gefiel. Angeblich gab es auch eine sexuelle Medienwelle. Aber nope. Wirklich wahrgenommen hatte ich das nicht. Prüde empfand ich die Deutschen eh nie. Und in der Grundschule war nahezu jeder Schülerin und jedem Schüler bewusst, was Sex ist. Warum man bis heute so verkniffen darüber herumwurstelt, was sexueller Aufklärungsunterricht inhaltlich vermitteln soll, ist mir immer noch ein absolutes Rätsel.

Eines ist aber durchaus komisch. Auch wenn mir meine Kindheit in entspannter, sorgloser, recht glücklicher Erinnerung geblieben ist, so entsinne ich mich an graue Farben. Damit meine ich mehr die Stadt Frankfurt. Offensichtlich war es so, dass mir die Gebäudearchitektur aber auch die Innenraumgestaltung trist erschien. Schwer zu vermitteln. Überbordend freundlich und zuvorkommend war mir die Frankfurter Bevölkerung auch nicht herübergekommen. Wohl ein eher typischer Eindruck in einer Stadt als Kind? Heute sehe ich Frankfurt und die Menschen anders.

Vielleicht lag es auch am Kontrast zu Jugo, da meine Eltern stets zu den Sommerferien heruntergefahren waren. Für mich ein alljährliches Highlight, denn ich sah meine große Familie wieder, all die Cousinen und Cousins. Fröhliche Menschen, liebenswürdig, singend, lachend, laut polternd, Kracherpartys aka Hochzeiten feiernd. Vor allen Dingen waren sie sehr kinderlieb. Soweit meine ich mich daran zu erinnern. Ab auf den Tisch und „sing, Robi!!!“ hieß es dann. Eines war aber auch dort auffällig, nur eben anders: Es ging immer um die liebe Kohle, wenn die Erwachsenen ernst und vertieft ihre Köpfe zusammensteckten. Obwohl die Jugos keinen Hunger litten, musste man sich schon zurechtfinden, wenn man sich beispielsweise ein Auto leisten wollte (Doppel- und Dreifachjobs waren gang und gäbe). Lustiges Detail am Rande: Die Cousins freuten sich tierisch, wenn sie etwas von Adidas mitgebracht bekamen. So waren tatsächlich die beliebtesten Marken damals Mercedes, Grundig (das war die „Apple“-Marke in Jugo) und Adidas. Nicht viel anders als in Deutschland, oder?

to be continued…

1980-1989 war ganz schön viel los auf der Welt, dennoch war es superbuntig!