Nachdem Facebook seine Neuerungen eröffnet hat, brummt die Interpretationsmaschine Internet. Was soll man von der neuen Timeline = Chronik halten, die im Visier und Fokus der Interpretation steht. Das scheint im Zentrum zu stehen, wundert mich aber, da das viel zu kurz springt. Facebook setzt sich an die Spitze der technologischen Möglichkeiten, die das moderne Internet inkl. dem Internet of Things bietet.
Zunächst aber zu den Neuerungen. Dort findet Ihr Übersichten:
Facebook Presse, Screenshots bei Techcrunch, Thomas Hutter und Casi fassen die neuen Features zusammen.
Nur ganz kurz zu den Chroniken, auf die so abgehoben wird: Nachdem ich selbst damit etwas herumgespielt habe, aber auch andere Meinungen dazu gelesen habe, kann man tendentiell sagen, dass die Chronik als neues Profil von Facebook den Mensch ein gutes Stück besser transportiert. Dies fördert nicht nur das Kennenlernen und Vernetzen von Fremden, sondern intensiviert auch das Erlebnis gemeinsamer Kontakte, allen voran von Verwandten und guten Freunden, wo persönliche Bande ein weitaus größere Rolle spielen.
Das alles ist jedoch lediglich ein Geplänkel auf visueller Ebene. Weitaus größere Tragweite hat das Verben-System von Facebook. So gut wie alle Anbieter von sozialen Diensten haben größte Schwierigkeiten zu erfassen, was der Mensch wirklich macht. Bisher kennen wir hauptsächlich das Liken, Kommentieren, Teilen und Befreunden. Schon mit diesen Interaktionen, die das IT System verstehen kann, lässt sich einiges anfangen. Siehe VZ, siehe WKW, siehe Facebook, siehe G+, und und und. Das Problem von allen Systemen ist bis heute, dass sie den Menschen im Grunde nicht wirklich verstehen. Das lässt sich nur beheben, indem man einen größeren Sprachraum technisch abbildet, um über diesen Umweg das Problem zu knacken. Es gibt zahlreiche Versuche (techn. z.B. via XML), doch kaum einer wie FB ist in der Lage, neue Standards bei sozialen Diensten zu setzen, eben beim Verstehen des Menschen. Verstehe ich das, was der Mensch macht, baue ich mir eine Basis für grundlegend bessere Services auf. Im Grunde ein simpler Gedanke.
Das System der Verben ist grandios und Grundbasis für die Zukunft
Facebook geht also einen Schritt weiter, einen wesentlichen Schritt. In Zukunft wird das System folgende Verben verstehen und systemtechnisch abbilden: watching, playing, cooking, running, listening, reading, visiting, eating, making, collecting, searching, learning, planing, liking. Wenn zuvor ein User schrieb, dass er etwas kocht, hatte das Facebook einfach nicht verstehen können. Jetzt ja. Versteht Ihr die Tragweite dessen? Und das sind eben die Verben, die mir in diesem Video aufgefallen sind, weitere sind denkbar, aber auch ein freies System.
Das spiegelt sich auch in dem neuen Statusfeld von Facebook wider. In Zukunft kann der User situationsbedingt Kategorien von Status erfassen. Die da wären?
Work and Education: Add a Job, Graduated, Military Service and others
Family and Relationships: married, engaged, Add a Child, Add a Pet, Lost a Loved One,..
Living: Bought a Home, Moved,…
Health and Wellness: Had Surgery, Overcome an Illness,…
Milestones and Experiences: learned a language, got a license,..
Zu jeder Kategorie wird dem User eine Dialogmaske präsentiert, in der er genauere Angaben machen kann. Wo bin ich umgezogen, wen habe ich geheiratet und wann, welche Sprache lerne ich, welche Krankheit habe ich besiegt und wann, etcpp.
Was bedeutet das?
Auf den einen Seite finden wir die Verben vor, auf der anderen Seite genauere Dateneingabemöglichkeiten. Flankiert wird das durch ein neuartiges System, das auch für Apps eine große Rolle spielt.
So kann der User angeben, welche Seite er gerade liest. Sobald er den Knopf READ auf der Seite XYZ einschaltet, werden Lesevorgänge in Zukunft automatisch an Facebook und damit die Kontakte gemeldet. Sobald der User einen Film schaut, wird das via WATCHING gemeldet. Sobald der User mit entsprechender Ausrüstung joggt – RUNNING – , meldet die App sowohl die Laufstreckenlänge aber auch die Strecke als solche an Facebook. Sobald man kocht, werden entsprechend ausgerüstete Küchen auch das Rezept melden können. Manche Verben sind automatisch nutzbar (ideal für den faulen Mensch, der solche Lösungen stets bevorzugt, wenn sie ihm OK erscheinen) andere wiederum aufgrund technischer Beschränkungen nur manuell bedienbar.
Das System der Verben lässt sich beliebig erweitern, die Fantasie ist unbegrenzt. Und eröffnet dem System Facebook eine Reihe von Möglichkeiten, Inhalte und Aktivitäten in beliebiger Form zu visualisieren aber auch in einen sozialen Kontext zu stellen, der unglaublich wichtig für den User als Individuum ist.
Strategisch macht das für Facebook Sinn. Einerseits ist FB als Big Player in der Lage, mit jedem anderen Anbieter zu kooperieren (Hulu, Microsoft, Nike, Siemens, GE, Spotify, Mercedes, …), um passende Aktivitäten-Apps bereit zu stellen. Egal, ob reale oder digitale Handlungen. Technisch ist manches jetzt schon machbar und lösbar, für andere Gegebenheiten (Beispiel Kochen) ist aber der technische Unterbau nunmehr gelegt worden.
Was Facebook hier macht, bezeichne ich als größte Semantikmaschine der Welt. Es macht soziale Handlungen digital sichtbar, in einer weitaus größeren Dimension als es alle anderen Onlineanbieter bisher überhaupt je gewagt haben. Facebook verschafft sich über die Verben eine Möglichkeit, den User als Individuum und Mensch besser zu verstehen. Und eröffnet sich damit vom Service her, aber auch von der Wirtschaftlichkeit des Dienstes her eine komplett neue Dimension.
Die Chronik, dieses visualisierte Abbild des Menschen in der Zeit, ist lediglich ein kleines Schnippsel davon. Facebook startet mit großen Knall in eine sowieso vorgezeichnete Zukunft des komplett vernetzten, digitialisierten Menschen. Menschen mit Menschen, Menschen mit Dingen, Menschen mit Orten, Dinge mit Dingen, Dinge mit Orten. Alles ein Brei, der sortiert werden kann und werden wird.
Ich hoffe, dass Ihr mich verstanden habt, was auf der Hand liegt und wo Facebooks Reise damit hingeht. Es ist nicht die schnöde (im Sinne der Tragweite), aber sehr interessante Chronik, das trägt nicht weit genug beim Verständnis.
Ob es Facebook gelingt, diese Vision umzusetzen? Sie haben zumindest einen Schritt gemacht und haben Anbietern wie Apple aber auch Google im Kampf um die zentralen Serviceangebote einen ganz großen Fehdehandschuh hingeworden. Ich weiß nicht, ob die User mitmachen. Denn eines ist klar: Facebook hat sich damit Drittanbietern ausgeliefert, denen es nun obliegt, all diese netten Apps anzubieten, die das System der Verben in der vollen, vorstellbaren Blüte entfalten. Facebook alleine kann das nicht mehr leisten angesichts der Möglichkeiten und Komplexitäten.
Fazit
Wow, Facebook ist mutig und innovativ. Strategisch haben sie eine extrem geile Basis gebaut, die definitiv zukunftsträchtig ist, ob zukunftsfähig aber wird der Markt entscheiden.
23.09.2011 um 12:56 Uhr
Wow Artikel. Wow zur Einschätzung. Wow zu Facebook’s Mut (wenn man das so nennen kann, oder Eier oder visionären Denkens)
Alles in allem für mich nur die logische Weiterführung der Grundidee (die Seite schon immer hatte, finde die ‚geilste‘ Schnecke, verbinde dich, Teile dein leben mit anderen..): Menschliche Bedürfnisse erfüllen und abbilden.
I like, facebook.
23.09.2011 um 13:18 Uhr
exzellente, klare und weitsichtige Zusammenfassung!
ich bin sehr gespannt, wie Facebook Unterscheidung von Wichtigkeit und Bemerkenswerten realisieren wird. Ich höre ja auch den halben Tag Musik online, davon ist aber nur ein Bruchteil eine wahre Empfehlung („Lieblingslied“). Mir gefällt die alte Kulturtechnik des manuellen Postings in den Facebook-Stream sehr gut. Ich möchte nicht alle Social Media-Inhalte in FB abgebildet sehen. Am Bsp von Foursquare sehe ich, dass ich nur nach meinen Freunden dort schaue, wenn ich Zeit zum Ausgehen/Treffen habe. ich möchte nicht jeden Checkin im FB-Stream sehen. Semantisch rocken wird FB erst dann, wenn ich nur die 4SQ-Checkins sehe, wenn ich am richtigen Ort (gleiche Stadt) und Stimmung/Zeit bin
23.09.2011 um 13:21 Uhr
Guter Artikel, dem ich vollständig zustimme. Mit einer kleinen Ausnahme, die mir schon öfter bei dir aufgefallen ist: du sprichst häufiger vom Verstehen im Zusammenhang mit Facebook, Google und anderen Diensten. Aber ich denke es nicht nur Haarspalterei, wenn ich anmerke, dass Maschinen nichts verstehen. Die Menschen, die Maschinen programmieren, versuchen ihr Verständnis ein Stück weit in den Reaktionen der Maschinen zu simulieren.
Warum ist das wichtig? Weil selbst der komplexeste Algorithmus nicht in der Lage ist, Verständnis nachzuahmen. Verstehen ist nicht die Summe aller Verständniszusammenhänge und nur die kann man einer Maschine „beibringen“.
Die Artefakte und unvorhersehbaren Elemente, die Maschinen produzieren sind anderer Art als die, die Menschen produzieren und sollten nicht in einen Topf geworfen werden, denn so entstehen meiner Meinung nach sowohl positive wie auch negative Vorurteile gewissen Technologien des Netzes gegenüber.
Ein Beispiel: Facebook kann Werbung auf mich zuschneiden und personalisieren, auch ohne dass mich auch nur ein einziger Mitarbeiter, Mensch vom FBI, vom bösesn Staat, von den Illuminaten jemals kennengelernt hat, meinen Namen kennt oder sonst was von mir auch nur gehört hat. Aber deshalb kennt mich Facebook eben noch lange nicht. Es werden Charakteristika abgearbeitet. Das ist alles. Sicher wird Facebook genau diese Daten von mir haben und so können sie auch an Menschen gelangen. Das „Verhalten“ der Maschine aber ist davon unberührt. Es ist durchaus möglich, diese Charakteristika abzuarbeiten, ohne dass auch nur ein Mensch die Möglichkeit hätte, die Charakteristika des Algorithmus und derer, die er mir zuschreibt zusammenbringen kann.
Ich muss also keine Angst haben vor Facebook. Facebook kennt mich nicht, bzw. das, was wir als kennen, verstehen etc. missverstehen, wäre auch möglich, ohne das Menschen daran kommen, es missbrauchen können.
Ist der Punkt klar geworden, oder habe ich mich mal wieder verschwurbelt?
23.09.2011 um 13:51 Uhr
Facebook entwickelt nicht das Semantic Web, sondern trainiert einfach seinen Nutzern an, den Input maschinenlesbar zu kategorisieren. Warum wir noch eine Weile auf das Semantic Web warten müssen, erklärt Peter Kruse hier: http://twick.it/blog/de/das-semantic-web-ist-ein-traum/
23.09.2011 um 13:55 Uhr
Eier hat dieser Vorstoß definitiv. Respekt, ich muss ja nicht unbedingt mitmachen. Angst vor Facebook habe ich nur gemäß dem alten Spruch – „Wo ein Trog ist, da kommen die Schweine.“
23.09.2011 um 14:47 Uhr
„Sobald man kocht, werden entsprechend ausgerüstete Küchen auch das Rezept melden können.“
Großes, sehr großes Missverständnis. Das ist nicht gedacht für Leute, die ein Rezept brauchen, weil sie frisch kochen. Es geht um den EAN-Code des Fertiggerichts, den man mit dem Smartphone einscannt, bevor man die Packung in die Mikrowelle schiebt. „John Doe macht sich gerade Kraft Maccharoni & Cheese“, „Joe Sixpack öffnet gerade eine Pulle Corona“, „Ashton Kutcher teilt sich mit seiner Demi gerade ein Pint Ben & Jerry’s“. Darum geht’s. Der Bioladen an der Ecke, der die Tomaten noch stückweise und roh verkauft, hat kein wirtschaftliches Interesse an Facebook und umgekehrt noch viel weniger. Zielgruppe des neuen Features sind Heinz, Kraft, Unilever und Nestle.
23.09.2011 um 15:02 Uhr
eine berechtigte Sichtweise, die nachvollziehbar ist:)
23.09.2011 um 15:49 Uhr
Eine kritische Bewertung sollte diesen Beitrag ergänzen: „Was Facebook hier macht, bezeichne ich als größte Semantikmaschine der Welt. Es macht soziale Handlungen digital sichtbar, in einer weitaus größeren Dimension als es alle anderen Onlineanbieter bisher überhaupt je gewagt haben. Facebook verschafft sich über die Verben eine Möglichkeit, den User als Individuum und Mensch besser zu verstehen.“
nein, so ist es: => ….“es macht soziale Handlungen“ in Ansätzen digital kontrollierbar, bewertbar (o je) usw..
„Facebook verschafft sich über die Verben eine Möglichkeit, den User als Individuum und Mensch besser zu verstehen.“ => „Facebook maßt es sich an, seine Teilnehmer dazu zu verleiten, ihre Privatsphäre immer mehr ausspähen zu lassen, was als harmloses Gadget daherkommt wird ein Baustein zu einer umfassenden Kontrolle, Beobachtung einschließlich aller unerwünschten Nebeneffekte. Einst warnte man vor der Rasterfahndung, heute werden Netzwerke als sozial und fortschrittlich gefeiert. Sie bringen Menschen zusammen und verletzen alle Gewohnheiten und Vorzüge des Öffentlichkeit.
Das Hochladen einer Bilderserie in Facebook, die nur eine bestimmte Person sehen sollte, und das anschließende automatische Markieren der Gesichter mit Namen jagte mir Angst und Schrecken ein. Das ist weder praktisch noch schön, sondern demonstriert einzig und allein die Macht von Facebook und das hat mit einem sozialen Netzwerk nicht zu tun. Eine solche Zukunft einschließlich der Spracherkennung ist nicht sozial, sondern öffnet Tür und Tor für Überprüfungspraktiken jeder Art, die die Freiheit und damit auch die individuellen Selbstbestimmungsrechte ignorieren..
[Wir müssen uns mal wieder treffen.]
24.09.2011 um 08:44 Uhr
Zumindest bewirkt das ganze nun das sich alle social Anbieter ins Zeug legen. Vor G+ kam mir fb sehr träge vor was Neuerungen betrifft. Jetzt hauen beide Portale Neuerungen deluxe raus. Konkurrenz belebt also das Geschäft und der User kann selber entscheiden wo er hin will. Ich glaube auch das fb diese ganzen Sachen schon teilweise in der Schublade hatte, denn das ließe sich nicht alles in dieser kurzen Zeit neu erfinden. Jetzt wo die „anderen“ da sind, wird halt nur schneller dran gearbeitet. Auch G+ hat mit Sicherheit noch das ein oder andere As im Ärmel.
24.09.2011 um 11:39 Uhr
Ich bin fasziniert, verwirrt und ein bisschen ängstlich.
Fasziniert von den Ideen und Visionen. Verwirrt, weil ich noch nicht wirklich weiß, was ich von dem Ganzen halten soll. Und ängstlich, weil ich befürchte, dass sich Facebook einen immer größeren Teil des Internets einerseits und unseres ganzen Lebens andererseits „unter den Nagel reißt“.
Aber zum Glück bleibt eine Tatsache weiter bestehen. Wenn ich möchte, mache ich mit. Und wenn ich Angst um meine Daten habe, dann lasse ich es bleiben und lebe ohne Facebook (so wie das der größte Teil meiner Altersstufe 45+ tut und wohl auch noch eine ganze Weile lang tun wird). Die Entscheidung liegt bei mir …
24.09.2011 um 12:10 Uhr
[edited by admin: formuliere Deine Frage verständlich und höflich]
24.09.2011 um 21:14 Uhr
Nettes Feature und möglicherweise auch nützlich – aber „mutig“? Was „riskieren“ sie denn damit? Es ist eine Erweiterung bzw. Domestizierung bestehender Statusmeldungen, um sie verständlicher und vor allem auswertbar zu machen. Der große Unterschied zu anderen Versuchen in dieser Richtung besteht eher darin, dass Facebook die Möglichkeit hat, das Vorhaben im ganz großen Stil umzusetzen und so eine gewisse kritische Masse zu erreichen, damit es sich durchsetzt.
Frage ist allerdings, wieviele Leute wirklich mitmachen, denn das Markieren von Wohnort, Arbeitsplatz,Freunden etc. ist i.d.R. eine einmalige Arbeit, aber ob wirklich so viele Leute die Ausdauer aufbringen, das System konsequent einzusetzen, steht auf einem anderen Blatt. So wie es jetzt implementiert ist, liegt der Nutzen vor allem bei Facebook und weniger beim Nutzer. Aber mal sehen, was die noch so damit machen.
27.09.2011 um 08:18 Uhr
Es geht Facebook nicht mehr nur darum, die Aktivitäten seiner Nutzer versteckt zu erfassen und zu kapitalisieren – ohne Mitspracherecht und oft sogar ohne Wissen der Nutzer. Das ganze wird nun in ein philanthropisches Mäntelchen gekleidet: „Wir arbeiten an einer großartigen Zukunftsvision“. Dabei wird in Facebooks „Verbalsystem“ das menschliche Verhalten in maschinell verwertbare Kategorien gepresst, die auf absehbare Zeit völlig unzureichend sein werden. Was ist mit den anderen grammatischen Elementen bis hin zu den Modalpartikeln, die doch den wahren Sinn der Aussage erst bestimmen? Facebook stellt nichts als eine grobe Schablone, eine Maschine der Missverständnisse. Ironie, Sprachgefühl, Andeutungen, künstlerische Ausdrucksformen fallen durchs Raster, was bleibt, ist ein kaltes, menschenfeindliches Gerüst in einer Pseudowirklichkeit, von Maschinen für Maschinen, auf maximalen finanziellen Nutzen ausgerichtet.