man sagt Kindern nach, dass sie unschuldig, süß und goldig sein können. Sie können. Ebenso gut können sie das Gegenteil sein. Schuldig, hässlich, abstoßend. Alles zugleich. Vorhin habe ich mehr oder minder die unschuldigere Sorte von Unsinn beschrieben, den ich als Kind erlebt habe. Es gibt sie, die hässlichen Erinnerungen des Unsinns.
Ich kann mich gut an einen Lehrer erinnern, der sich zum Unterrichtsbeginn bei uns entschuldigte, die Klassenarbeit nicht rechtzeitig korrigieren zu können. Seine Eltern seien am Wochenende verstorben. Statt Schweigen oder Kondolenz zu bekunden, war das erste ein Wehklagen „was können wir dafür, dass ihre Eltern gestorben sind, ich brauche die Note wegen dem Abschlusszeugnis„. Ein Teeniegirlie. Der Lehrer – dessen Teint stets sehr blass war und ich mich meine erinnern zu können, dass die Blässe in dem Moment zunahm – drehte sich um, schrieb etwas an die Tafel, korrigierte mit zitternden Händen, mein Freund „oh, jetzt zittert er schon, der arme Kerl„. Wir sahen ihn nie wieder, nachdem er fluchtartig seine private Hölle verließ. Vielleicht auch besser so, es war beschämend, Coolness in der Gruppe empfunden zu haben.
Ein anderer Vorfall war weniger grausam, doch nicht minder ein Spiegelbild menschlicher Seiten. Unser Klassenlehrer war eigentlich ok, wir standen nicht auf Kriegsfuß mit ihm. Das schützte ihn jedoch nicht vor dem Einfall, eine Pralinenschachtel auf seinen Tisch zu platzieren, mit Blüten zu schmücken. Er kam herein, erblickte sein Präsent, bekam glänzende Augen, machte die Schachtel auf und schwieg. Klar, wenn man in eine Schachtel blickt, die nicht mehr als die leeren, plastikartigen Pralinenhüllen enthält, Müll, als Geschenk.
Beliebt war natürlich das Ausschlussprinzip von Gruppenmitgliedern. Ein Negativmerkmal genügte. Ein frisches Scheidungskind auf dem Schulhof. Und darf sich anhören, wie doof und dumm es ist. Weinend in der Mitte von Idioten wie mir umgeben. Eingebrannt haben sich sein Blick und seine Worte, die sich an mich richteten. „Du bist mein Freund, warum machst Du mit„. Ich so „flenne nicht„. Irgendwie meint man förmlich das Krachen zu hören, wenn sich der Blick in Millisekunden schlagartig wandelt. Wie eine Art Glas, das in Zeitlupe bricht. In ihm und mir. Das muss irgendwann während meiner Grundschulzeit vorgefallen sein. Knapp 40 Jahre her. Vergessen habe ich das nie.
Kinder und Unsinn, mal nice, mal shit. Bei mir hat diese Mischung dazu geführt, dass ich menschlichen Gruppendynamiken und Herdentrieben gegenüber höchst misstrauisch eingestellt bin. Mich gerne auf die Seite derer stelle, die auf der anderen, äußeren Seite der Gruppe stehen. Ein Gruppe hat kein Recht, sie hat nur ein Gefühl des gemeinsamen Rechts, das ebenso gut Unrecht sein kann. Nichts rechtfertigt die Demonstration von Stärke einer Gruppe, nichts das Ausmaß der Handlungen einer Gruppe, gegenüber dem Recht oder Unrecht eines Einzelnen.
17.07.2011 um 12:01 Uhr
sehr schöner beitrag ! danke ! hat mich auch ein wenig in erinnerungen schwelgen lassen. auch wenn es bei mir noch keine jahrzehnte her ist. ;-)
17.07.2011 um 13:19 Uhr
Netter Beitrag, auch wenn ich den Schritt von ein paar Kindern hin zu den Rechten einer Gruppe in dieser Form der Verallgemeinerung doch für gewagt halte. Ich habe als Kind so gut wie nie zu der Gruppe gehört, war eher der Einzelgänger, dennoch glaube ich, dass die Gruppe – z.B. die Gesellschaft – schon das Recht auf ihrer Seite hat und sogar das Recht hat, ihre Stärke zu demonstrieren. Setzt natürlich voraus, dass es sich bei meiner Gruppe nicht um eine Hand voll Kinder handelt :-)
Grüße, Maik
17.07.2011 um 18:29 Uhr
Als Kind oder Heranwachsender sieht man das anders: Da zählt Gruppenzwang. Wer sich dagegen stellt, wird selbst zum Looser abgestempelt.
Die wenigsten zehn- oder zwölfjährigen haben die Kraft, eine eigene Meinung zu vertreten. Woher auch. Ihnen wird ja von älteren vorgelebt, sich unterzuordnen. Alles andere schadet u.a. dem eigenen Vorwärtskommen.
Ob das Recht oder Unrecht ist – wer fragt danach. Was zählt ist die Gruppe, in der man sich verstecken und zum Mitläufer werden kann.
17.07.2011 um 19:15 Uhr
Das Schlimme für manch unfreiwilligen Mittäter ist, dass man als Kind vielleicht noch weniger denn als Erwachsener, den Mut aufbringen kann, Nein zu sagen. Im Rückblick eine oft sehr unwohlbesetzte Angelegenheit.
17.07.2011 um 19:40 Uhr
Hi,
die Betrachtungsweise ist recht interessant und doch gibt es die aus dieser Dynamik fallen. Es gibt die starken Lehrer, die mit allen Situationen umgehen können, es gibt die scheinbar anderen und Ausgeschlossenen, welche immer über der Gruppe stehen und auch nicht in deren Kreuzfeuer geraten.
Sicherlich fühlt sich die Herde immer stark, ein Opfer immer angegriffen, aber weder Opfer noch Täter interessieren mich nicht so sehr, als die Leute, welches sich gar nicht erst auf dieses Spiel einlassen.
mfG
Marc
19.07.2011 um 11:05 Uhr
Nicht umsonst ist die Selbstmord- und Burnout-Rate bei Lehrern besonders hoch, dieser allseits immer gern als „Faulenzerberuf“ betitelte Job ist meist knochenhart (besonders auf Haupt-, Real- und Gesamt-Schulen). Aber zurück zum Thema: Kinder muß man richtig erziehen. Macht man dies, dann wehren sie sich auch gegen Ungerechtigkeit, ich stand immer hinter den Schülern mit der dicken Brille oder den Unsportlichen, größtenteils mit Sicherheit weil ich es so beigebracht bekommen habe (habe viele jüngere Geschwister). Soziale Gerechtigkeit steckt uns nicht in den Genen, die müssen wir unseren Kindern antrainieren, denn schliesslich müssen sie sich nicht mehr um den letzten Mammut-Knochen prügeln, sondern bekommen alle ihre eigenen, natürlich mit Pommes und Ketchup :-)
19.07.2011 um 11:22 Uhr
full ack
21.07.2011 um 09:13 Uhr
Momentan warte ich noch, dass ein Forensturm vorüberzieht. Die „Schulhofhetze“, die gedankenlosen Beleidigungen, die Erwachsene im Schutze vermeintlicher Anonymität verlinkt, verschriftlicht im Netz veröffentlichen und bei der sich vorpupertär, der eine oder andere in der Gruppensuppe als dicker „Alpha“ aufplustert, … dass all dieser Schwachsinn in dem Wust der Belanglosigkeit von Foren untergeht. Beim Lesen des Beitrages hatte ich das Gefühl, dass Robert die Parallelen im Sinn hatte, jedoch durch die Verlagerung des Schauplatzes, die Konfrontation geschickt vermeidet.
21.07.2011 um 09:24 Uhr
Du denkst an Lufthansa? Würde naheliegen, aber der Anlass zum Beitrag war simpler und realer:) Ein ganz normales RL-Gespräch mit meiner Liebsten über Schabernack in der Schule :)))