Gibt es eigentlich Schulpraktika noch heutzutage? Ich hatte damals meines in der 9. Klasse gehabt. Da ich -damals- Arzt werden wollte, hatte ich mir ein Krankenhaus ausgesucht, wo ich drei Wochen als 14/15-Jähriger mein Praktikum absolvierte. Es war das Katharinen Krankenhaus in Frankfurt, glaube ich. Ist immerhin 30 Jahre her. Und obwohl es so lange her ist, habe ich die Bilder noch recht gut in Erinnerung. Warum nicht darüber berichten?

Man hatte mich am ersten Tag in einen weißen Kittel geschmissen und zur urologischen Station zugeordnet. Urologie? Um es einfach auszudrücken, alles was sich im unteren Bereich tummelt. Zu meiner Überraschung musste ich feststellen, dass nicht nur Kranke dort lagen, sondern auch hin und wieder ein freiwillig Beschnittener. Ne, nicht aus religiösen Gründen, sondern laut Eigenaussage zur Steigerung der sexuellen Gelüste. Ob es zufriedenstellend für die Patienten war? Habe ich nie erfahren :)

Was blieb noch hängen? Fangen wir mit den schlimmen Dingen an. Schlimm ist letztlich eine Art von sinnloser Feststellung, gerade in einem Krankenhaus. Natürlich ist es „schlimm“, das Leid der Patienten zu erleben, die Ungewissheit der Verwandten, die Angst, der Schmerz, das Wehklagen. Andererseits, wenn man schon Arzt werden möchte, geht man nicht mental völlig unvorbereitet in so ein Praktikum. Natürlich ahnt man, dass es nicht ausschließlich um glückseelige Heilungsprozesse geht,wo Menschen nonstop happy drauf sind. Natürlich sagt man sich, dass man es nicht zu seiner eigenen Sache machen darf, mitzuleiden. Insofern sieht man, fühlt man und respektiert die „schlimmen Dinge“. Auch stellt man im Verlauf des Praktikums fest, ob man dazu gemacht worden ist. Für mich war es so. Das stellt man eh recht schnell fest.

So kann ich mich an eine unschöne Szene erinnern. Es gab eine Art „Todeszimmer“. Die Patienten, die darin lagen, waren mehr dem Tode zugeschrieben, denn einer Entlassung. Der Arzt nahm mich zu einer „Spülung“ mit. Es ging um einen unheilbar krebskranken Patienten. Ich durfte die Nierenschale festhalten. O-Ton des Arztes: „Bevor sie umkippen, sagen sie mir vorher Bescheid“. Ich so eingeschüchtert „ok, wir werden sehen, ich glaube nicht“. Der Patient litt trotz Schmerzmitteln während des Vorgangs, den ich nicht näher beschreiben werde. Auch nicht das, was in der Nierenschale zu sehen war. Ich vermutete wie gesagt vorher, man müsse dafür gemacht worden sein, so war es dann auch. Meine Neugier überstieg jeglichen Anflug von Schwäche und Ohnmacht. Wenn Du Arzt werden willst, musst Du wissen, was der Körper ist, wie er funktioniert. Warum man wie behandelt. Alles, was Du siehst, riechst und erleben wirst, gehört dazu.

Der Patient war ein älterer Mann, von Beruf Geigen-Spieler. Als ich ihm das Mittagessen brachte, kamen wir ins Gespräch, während ich ihm half, das Essen zu sich zu nehmen. Er hoffe, bald entlassen zu werden. Seine Frau, die daneben saß, bekräftigte dies mit glänzenden Augen. Auch so eine Erfahrung. Ich hatte zwar verstanden, warum man manchmal einem Menschen nichts über sein Schicksal verraten will. Akzeptiert hatte ich es innerlich nicht. Für mich gehört es bis heute dazu, dass ein Mensch Anspruch darauf hat, seine Wahrheit zu erfahren. Wenige Tage später war das Bett leer, die Akte geschlossen. Ich habe ihn nie vergessen, wie er gehofft hatte. Seine Augen sprachen aber die Wahrheit. Menschen scheinen gerne bis zum Schluss zu hoffen, auch wenn es aussichtslos ist.

Auch erfährt man in einem Krankenhaus Demut und Geduld. So erging es mir mit einem Patienten, dessen linkes Bein (weiß auch nicht, warum ich das noch weiß) wegen Durchblutungsstörungen frisch amputiert war. Ich musste seinen Verband wechseln, was nicht ohne Schmerzen geht. Nicht bloß, dass er unwirsch wurde, er war auch so ein echter Kotzbrocken von Mensch. Also wurde es mir zu bunt, ich ließ ihn liegen, ging ins Schwesternzimmer und kassierte prompt einen dicken Anpfiff von der Stationsschwester (Leiterin der Abteilung) ein. Ich habe ihn weder als A-Loch zu bezeichnen noch obliege es mir, mich persönlich über seine Person zu stellen. Er sei ein Patient wie jeder andere auch. A-Loch hin, Kotzbrocken her. Nachtrag: Der Patient rauchte unmittelbar nach seiner OP dennoch weiter, was zu einem heftigen Konflikt mit dessen Arzt führte, vor meinen Augen im Aufenthaltsraum. Das andere Bein war auch schon stark angegriffen, das war aber dem Patienten egal, es war ihm alles egal, was es auch so erklärte.

Unangenehm? Stichwort unangenehm, ja. Zur Pflege von Patienten gehört es auch dazu, dass sie nicht mehr in der Lage sind, alleine ihre Notdurft zu verrichten. Sei es dann, um den Urinbeutel zu wechseln oder den Topf zu entleeren und zu waschen, aber auch den Allerwertesten abzuputzen. Das gehört zum Job dazu. Klar ist es dem Patienten unangenehm, aber man arrangiert sich stillschweigend. Selten, dass es mal einer zur Sprache bringt. Klar ist es am Anfang komisch, es ist auch unangenehm, aber wie gesagt. Es gehört dazu. Den Würgreiz kann man übrigens lernen zu unterdrücken :)

Rituale. Auch die gibt es. So ist ein ehernes Ritual die Übergabe, aufgrund der Schichtarbeit in Krankenhäusern. Die wachhabenden Schwestern und Pfleger kommen zusammen und informieren die nachfolgende Schicht. Hierzu gehört es auch, über verstorbene Patienten kurz und sachlich zu informieren. Anfänglich fand ich den sachlichen Ton merkwürdig, mit der Zeit begreift man recht schnell, dass Sachlichkeit geboten ist, wenn man es nicht zu nahe an sich herankommen lassen will. Nach dem Praktikum war das übrigens einer der Gründe, warum ich mir gesagt hatte, niemals Kinderarzt zu werden. Dafür war ich nicht geschaffen worden, das war meine Grenze nach dieser Erfahrung.

Nicht an sich herankommen lassen. Ja, es gibt dann auch Momente, da spaziert ein Patient in das Schwesternzimmer und deutet auf einen nicht gerad kleinen Krug voller Blut. Das man ihm abgenommen hatte. Er deutet darauf weinend und schluchzt, dass er bald mit seiner OP dran sei. Krebs. Er werde sterben. Warum. Wieso. Die Bilder prägen sich ein, innerlich greift dieser Schicksals-Satz „es ist sein Schicksal, nicht deins“. Dennoch nimmt man es mit, man ist keine Maschine.

Andere gingen mit ihrem möglichen Tod in einer Seelenruhe um, dass man eigentlich von großer Würde sprechen muss. So lag in einem Einzelzimmer eine ältere Dame, der Krebs hatte ihren Körper völlig erobert. Trotz Schmerzen und dem sicheren Tod vor Augen hatte sie eine Würde an den Tag gelegt, dass ich mich bis heute an sie wie eine Art Engel vor dem geistigen Augen erinnere.

Ärzte und Schwestern. Man hört so Einiges. Dennoch passt dieses Bruchstück meiner Erinnerung da rein: Eines Tages kam ein Chefarzt nach Feierabend warum auch immer ins Schwesternzimmer. In Begleitung mit einer Schwester, die nicht nur verdammt gut angezogen war (irgendein Pelztier umgehangen), sondern auch verdammt gut aussah. Ich sah sie an, sie blickte zurück. Kennt Ihr das, wenn kurze Blicke ganze Seiten füllen? Sie wusste, was ich dachte, ich wusste, was sie dachte. Und dann wechselt der Blick von Verstehen zu Scham, weil man sich beiderseitig ertappt fühlt, wie offen doch Augen blicken lassen. Schmunzel.

Es gab noch viele andere Begebenheiten, Dinge, an die ich mich erinnere. Letztlich, ich kam ins Krankenhaus als ein Bild von einem Haus voller Leid, Schmerz und Tod (wohl, um mich darauf besser vorzubereiten), rausgekommen bin ich mit diesen Eindrücken zwar auch, aber ergänzt durch Glück, Heilung und Leben. Ein Krankenhaus ist nicht nur ein Todeshaus, natürlich auch ein Haus des Lebens. Beides liegt nahe beieinander. Was habe ich mitgenommen? Das Leben als Ganzes besser zu sehen, nicht mehr aber auch nicht weniger. Es ist etwas anderes, wenn man etwas von der Ferne sieht, darüber liest oder es hautnah verspürt. Du siehst Menschen regelrecht nackt vor dir, seelisch und körperlich entblößt. Wir sind so verletzlich, so leicht aus dem Tritt zu bringen, jeder reagiert dabei anders, auf seine ihm gegebene Art. Dinge, die draußen wichtig waren, verblassen recht schnell wenn es um das eigene Wohl geht. Dennoch ist Mensch eben Mensch. So lernt man auch, über den Mensch nicht von oben herab zu urteilen.

Arzt bin ich dennoch nicht geworden, aber das hat andere Gründe. Eine andere Geschichte. Ach ja, der Job einer Schwester bzw. eines Pflegers ist ein Knochenjob, physisch extrem anstrengend, psychisch hat man es auch nicht leicht, all das Wehklagen zu verarbeiten. Mein tiefster Respekt!