Ich bin auch 2 Tage nach dem WBF immer noch ein wenig fassungslos darüber, was am Samstag passiert ist. Einerseits hatte ich total positive Erlebnisse und tolle Menschen kennengelernt und andererseits (ich war erst ab Session 2 vor Ort) habe ich live auf der Twitterwall erlebt, wie die Speaker mit halblustigen Meldungen veräppelt werden (Anita Posch, WBF2010 Referentin)
Auf dem Bäckblog findet sich ein sehr aufschlussreicher und mit guten Kommentaren gesegneter Beitrag zu dem Thema Twitterwall: Stirb, Twitterwall, stirb. Anlass war das World Blogging Forum in Wien, wo die Twitterwall nicht nur Positives hinterlassen hat. Möchte gerne dazu meine Eindrücke und Erfahrungen als Referent einbringen (auf dem WBF selbst habe ich nicht vorgetragen, kenne aber schon das Leid der Referenten mit der Twitterwall), wie das von dieser Seite aus zu sehen ist.
Zunächst:
Was zur Hölle ist eine „Twitterwall“? Eine Twitterwall kann – muss nicht ausschließlich nur das sein – als eine Beamer-Leinwand verstanden werden, die während eines Vortrags hinter dem Referenten eingeblendet wird.
Was zeigt die Twitterwall an? Sie zeigt ausgewählte bzw. gefilterte Tweets auf Basis eines oder mehrerer Stichwörter aus Twitter an. So wurden auf dem World Blogging Forum 2010 alle Tweets mit dem sog. „Hashtag“ (=Stichwort) „#WBF2010“ angezeigt.
Nun zur Sicht des Referenten. Wie kann man sich als Referent eine derartige Twitterwall vorstellen?
1. Die Teilnehmer fangen an zu lachen: Irgendein User hat etwas besonders Witziges geschrieben. Das kann muss aber nicht direkt mit dem Vortrag etwas zu tun haben. Der Referent sieht lediglich lachende Gesichter und fragt sich, warum die Zuhörer lachen. Für einen Referenten ist die Situation nicht einfach. Er/sie steht sowieso unter Stress. Wie soll er/sie die Lacher verstehen?
2. Ich schrieb absichtlich „Zuhörer“. Auf super bleeding edge Webkonferenzen gehört die Twitterwall zu einem „must have“. Häufig werden die Twitterwalls im Versammlungsraum eingeblendet, manchmal auch direkt im Vortragssaal. Gerade im letzteren Fall mutiert die Twitterwall zu einem Austauschmedium für die Zuhörer, sich untereinander zu unterhalten. Köpfe gesenkt auf das Netbook / Smartphone. Wie sieht das für den Referenten aus? Von 100 Zuhörern sind 20 Zuschauer mit Blick zum Referenten, 80 Zuhörer mit Blick auf den mobilen Screen auf dem Schoß. Hören die nun einem nicht zu, weil man so langweilig ist?
3. Manche Zuhörer hegen auch die Erwartung, dass der Referent auf die Tweets eingeht. Das ist allerdings super schwer, denn was dem Zuhörer so einfach erscheint, fällt dem Referenten schwer. Klar, er kann dem Saal den Rücken zudrehen und 1 Minute auf die Wall starren, bis er die richtigen Frage-Tweets findet, wenn überhaupt. Der Tunnelblick macht es dem Referenten doppelt so schwer, gerade dann, wenn man unerfahren und nervös ist.
4. Sollte der Vortrag langweilig sein, wird man mit einem kleinen Kritik-Ansturm zu rechnen haben, der sich durch gruppendynamische Effekte verstärken kann, bis hin zu persönlichen Kritiken. Das ist natürlich eine Scheiß-Grundlage für den Referenten, der vor den Augen der Zuhörer bloßgestellt wird. Richtig dumm wirds dann, wenn der Referent die kritischen Tweets während des Vortrags liest. Der Puls geht auf 180, der Frusthormonpegel steigt, das Schamgefühl blockiert, die Stimme wird fiepsiger, die Ohren dunkelrot.
5. In manchen Fällen findet man auf der Twitterwall während des Vortrags hilfreiche Linkverweise, ergänzende Infos. All das zusammen kann via Publikum den Vortrag bereichern und ist an der Stelle für den Referenten ein echter Glücksgriff.
Resumee
Natürlich ist die Twitterwall eine moderne Bereicherung mit digitalen Feedback-Aspekten während eines Vortrags. Natürlich kann sie den Vortrag bereichern und im besten Falle zu einer noch besseren Diskussion führen. Läuft es schief, wird es doppelt so übel für den Referenten. Den Stresslevel des Referenten erhöht es allemal. Jeder, der mal auf der Bühne stand, wird diesen Stress kennen. Die Twitterwall kann da sehr hinderlich und blockierend wirken.
Die Zuschauer/Zuhörer sind sich leider der Auswirkungen der Twitterwall auf den ungeübten und meistens eben nicht mit allen Wassern gewaschenen Referenten nicht bewusst.
Twitterwall im Vortragsraum: Gut wäre es, wenn…
1. Der Moderator oder die Orga vorab auf die Twitterwall hinweist, wie man sie nutzen kann, was man bedenken sollte. Den Referenten und Teilnehmern gegenüber.
2. Sollten Fragen/Anregungen auf der Twitterwall erscheinen, wäre es klug, dass sie ein Helfer aus dem Publikum während des Vortrags zusammenfasst und bei der Diskussionsrunde dem Referenten sozusagen zur Beantwortung übergibt.
3. Persönliche Kritiken haben auf der Twitterwall nichts zu suchen, aber imho ist es OK, wenn sich der kritisierende User freiwillig als Arschloch outet.
4. Die Orga sich nicht nur aus technischer Begeisterung heraus eine Twitterwall im Vortragsraum aufbaut. Die Pros/Contras sollten klar sein. Eine etwaige Filterung und Aussteurung besonders dämlicher Tweets sollte möglich sein. Das hängt aber auch am zu erwartenden Publikum, das die Orga grob kennen sollte.
5. Der Referent selbst entscheiden kann, ob die Twitterwall hinter ihm eingeblendet wird oder nicht.
Und wenn die Twitterwall nicht im Vortragsraum hängt, sondern in einem offenen Areal für alle Teilnehmer? Darüber findet Ihr Erfahrungen auf Ralphs Piratenblog: Es lebe die Twitterwall (Nutzen, Vorteile…).
Alles Weitere auf dem Bäckblog und in dessen Kommentaren: Stirb, Twitterwall, stirb. Und, aktuell beim Speichern dieses Beitrags kam der Beitrag einer WBF2010-Referentin als Reaktion auf ihre Erfahrungen mit der Twitterwall rein: “Ich will nicht ALLES wissen, was ihr denkt.” Meine Eindrücke als Speakerin beim “World Blogging Forum 2010″.
15.11.2010 um 17:37 Uhr
Das ist ein sehr wichtiges Thema. Ich finde es nicht unbedingt sinnvoll, wenn damit Unfug getrieben wird und der Referent dadurch den kürzeren ziehen muss. Besonders für Menschen, die nicht täglich irgendwelche Vorträge halten, ist es eine wirklich dumme Situation, wenn sie durch solch eine Twitterwall bloß gestellt werden oder die Zuhörer plötzlich anfangen zu lachen.
Wenn solch eine Twitterwall schon gezeigt wird, sollte man vielleicht ein System daraus machen und irgendwer fischt da echt nur die guten Tweets raus, die nützlich und informierend dazu sind. Ich hoffe durch deinen Artikel ändert sich etwas, denn ich kann mir gut vorstellen, das dadurch eine Vorträge schlechter werden.
15.11.2010 um 18:06 Uhr
Ein Referent, der wirklich was zu sagen hat, und nicht nur dort steht um Referent zu sein,
wird das abkönnen.
Jemand, der das in der Uni gelernt hat, ist natürlich verloren, wenn man die Spielregeln abschaltet.
Ich mag das. Es ist eine Qualitäts- und Relevanzdemokratie.
Wenn keine Twitwall da ist und die Zuhörer sich langweilen,
sollten sie konsequenterweise ihr Uninteresse durch verlassen des Raumes
ausdrücken.
Für unerfahrene Referenten sicher eine harte Schule,
aber umso mehr Ansporn eine gute Präse zu machen.
15.11.2010 um 18:14 Uhr
@Matt auf der einen Seite gebe ich Dir Recht, denn genau darum mag ich diese Twitterwalls, weil sie eben direktes Feedback realtime zulassen, untereinander connected sind. Auf der anderen Seite hat auch das seine Grenzen, wenn es nicht dem Vortrag zu Gute kommt, sondern sowohl der Druck auf den Referenten unnötig erhöht als auch zur zu großen Ablenkung der TNs beiträgt (was selbst bei guten Vorträgen nur zu gerne passiert). Die Quali des Vortrags und des Referenten ist da manchmal völlig egal.
15.11.2010 um 18:43 Uhr
So, und jetzt auch noch hier ein Häufchen eh Kommentarchen hinterlassen:)
Alle Macht den Usern, Konsumenten und dem Publikum. Yeah.
Aber wir sind auch alle eine Community und wenn da nach Lust und Laune quasi hinterrücks via Twitter Wall schnell mal geätzt wird, und zwar nicht unbedingt nur vortragsrelevant, sondern auch über den Sprachfehler oder die Transpiration eines Bloggers, dann will ich nicht mehr Teil DIESER Community sein. Und andere werde sich überlegen, in Zukunf noch Veranstaltungen mit Herzblut zu organisieren. Die Twitterwall frisst ihre Kinder.
15.11.2010 um 18:47 Uhr
hm, nun ja, wenn denn „alle“ so gewesen wäre und man von Wenigen auf Alle schließen könnte, würde ich auf ein WBF II in Wien gerne verzichten. Dem war/ist aber nicht so und warum soll ich mich abgrenzen von etwas, das zwar unschön war aber nicht der großen Mehrheit entsprach? Ich sehe es als statistischen Ausreißer an und fand im Großen und Ganzen das WBF extrem gut!
15.11.2010 um 19:00 Uhr
Das seh ich grundsätzlich genauso. Es waren wirklich viele großartige Leute am WBF, es war eine tolle Veranstaltung: aber worüber wir tags drauf am meisten reden, sind nicht die vielen großartigen Dinge sondern der bittere Nachgeschmack der Twitterwall. Da haben einige wenige der Veranstaltungen doch eine Schlagseite verpasst und das find ich schon schade.
15.11.2010 um 19:31 Uhr
Sollte es keine Zusammenfassung der Veranstalter geben, ist es fast schon zwingend, den Referenten wenigstens einen Monitor vorne zu platzieren, auf dem sie die Diskussion selber verfolgen können, ohne dass sich alles in ihrem Rücken abspielt.
16.11.2010 um 10:17 Uhr
zu 1) auch ohne Twitterwall können alle Teilnehmer plötzlich lachen, wenn sie Twitter lesen… oder miteinander quatschen…
zu 2) schon auf meinem allerersten Barcamp und meiner allerersten Session sah ich nur gesenkte Köpfe. Für mich als Trainerin ein Schlag ins Gesicht. Hinterher stellte sich heraus, sie haben für ihre Blogs mitgeschrieben oder Kontaktanfragen an mich über die damals noch anders heißende Plattform Xing geschickt. Hat nix mit der Twitterwall zu tun. Auch ohne Wall haben sie ihre Köpfe gesenkt. Das ist zumindest meine Barcamp-Erfahrung.
Wir hatten seinerzeit eine E-Mail-Etiquette eine Netiquette (gab sogar Seminare dazu) dann eine SoMe-Etiquette. Mir scheint es braucht jetzt eine Twittiquette…
23.11.2010 um 13:41 Uhr
Dachte, das Thema sei seit diesem Beitrag längst abgefrühstückt:
http://blog.mathias-richel.de/2010/02/03/twitterwalls-sind-unhoflich/
23.11.2010 um 13:44 Uhr
Ganz spannend vielleicht: Eine ähnlich Diskussion führen wir an der Uni in Braunschweig, wo wir seit einem Jahr in Vorlesungen eine Twitterwall einsetzen.
Hier der erste „Versuch“: http://blog.wi2-tubs.de/?p=1922
Der 2. lief schon besser: http://blog.wi2-tubs.de/?p=1948
Mittlerweile ist es schon zu einem Standard geworden, das Ganze hat sich selbst reguliert. http://blog.wi2-tubs.de/?p=3735
23.11.2010 um 17:40 Uhr
Ich kann die Aufregung über Twitterwalls nicht nachvollziehen.
Speziell bei den von Dir, Robert, dargelegten Argumente finde ich befremdlich, dass Du den Teilnehmer nahelegen willst, was sie während des Vortrages machen dürften oder sollten, und was nicht. Das können die auch selbst entscheiden.
Wenn mich ein Vortrag interessiert, höre ich zu. Wenn er besonders interessant ist, twittere ich auch darüber. Wenn ein Vortrag langweilig ist, beschäftige ich mit etwas anderem, Wenn er besonders langweilig oder gar schlecht resp. inhaltlich falsch ist, twittere ich darüber. Unabhängig davon, ob es eine Twitterwall gibt oder nicht.
Und viel unhöflicher als eine Twitterwall empfinde ich schlechte Vorträge und Panels, die den Teilnehmer Zeit und Geld stehlen.
29.01.2011 um 21:55 Uhr
Social Media braucht keine Nettiquette oder sonstwas. Verstand und Höflichkeit müssen nicht neu erfunden werden. Sie gelten hier wie überall. Fakt.
Aber: Störenfriede gab es immer und wird es immer geben. Auch das ist Fakt. Also geht die Installation von Rückkanälen die ungefiltert und sogar live sind immer mit der Verantwortung einher, dass man damit umgehen können sollte. Die dafür genannten Möglichkeiten (á la „Gut wäre es wenn …“) halte ich einen guten Ansatz.