Seit Web 2.0 wissen wir es alle: Jeder ist zu einem Influencer mutiert. Ob nun Instagramer, YouTuber, Blogger, Facebbooker, Snapchatter oder gar WhatsApp-Gruppenteilnehmer. Im Handumdrehen hat man den Stammtischkreis seiner wenigen Freunde aus dem letzten Kaff verlassen und pustet seine Stimmungen, Meinungen, Bilder und Eindrücke in die Öffentlichkeit. Die neuen Freunde addieren sich schnell zusammen: 100 Friends auf Facebook, 100 Abonnenten auf Twitter, 100 auf Instagram, 100 auf YouTube. Was Jesus die 12 Apostel waren, sind dem Influencer die 1.000 Fische, die einem ins Netz gehen. Eintausend klingt nicht nach viel. Im Vergleich zu den wenigen Freunden und Bekannten im „real life“ ist das aber irre viel. Viel mehr noch, da manch einer tagtäglich Lebenszeichen von sich gibt. Das geht dann über Monate und Jahre. Früher war es der Melitta-Mann, der in den deutschen Wohnzimmern zum bekannten und vertrauten Gesicht wurde. Heute ist jeder der Melitta-Mann und die Melitta-Frau. Klar gibt es auch die Superinfluencer, denen hunderttausende Fische ins Netz gehen. Aber das Prinzip bleibt sich gleich.
Huch, es kostet Verantwortungszinsen
Ich glaube jedoch nicht, dass jedem die Verantwortung klar ist, die es im öffentlichen Raum zu entdecken gilt. Wer bis dato am Familientisch seine Gedanken zum Besten gab, macht das genauso am Facebooktisch. Mag sein, dass die eigene Meinung nicht ausgewogen vorgetragen wird. Das bisschen Halbwissen, was man von sich gibt. Was macht das schon. Man will sich ja nur amüsieren, unterhalten, vernetzen. So wie zu Hause. Wer denkt schon daran, dass einem 1.000 Menschen zuhören? Wer denkt schon daran, dass man ohne Weiteres 1.000 Köpfe verdrehen kann? Wieso sollte man Verantwortung dafür tragen? Ich? Ach geh, ich doch nicht! Was habe ich kleines Licht schon zu melden?
Lügeninfluencer
Aber ist es nicht die „Lügenpresse“, die in die Mangel genommen wird, sobald auch nur ein kleinster Fehler im Bericht auftaucht? Etwas ausgelassen wird? Wieso sollte ein Lügen-Influencer nicht auch durch in die Mangel genommen werden? Welchen Unterschied macht es, ob eine BILD 1.000.000 Leser erreicht und Du eben 1.000? Hast Du etwa dann nur 1/1000stel der Verantwortung zu tragen? Ist es keine Lüge, wenn man etwas gehört hat und aufbauscht? Ist es keine Lüge, wenn man Fakten nicht recherchiert, sondern einfach so eine Meinung bildet? Fakten gar verdreht? Panik erzeugt? Weil man keine Zeit hat, um ordentlicher zu arbeiten? Arbeit? Weil man keine Not sieht, Verantwortung zu tragen?
Schlamperei, selbst beim Bildungsbürger
Wie oft habe ich gerade und insbesondere deutsche, gebildete Staatsbürger dabei „erwischt“, wie extrem schlampig sie mit Attributen um sich werfen, wenn sie gegen Staatspolitik und -gewalt meckern? Da werden hoheitliche Befugnisse und Gewaltenaufteilungen komplett durcheinandergewirbelt. Egal, Hauptsache meckern. Als würde ein minderbemittelter Geist schreiben. Wie oft lese ich etwas über wirtschaftliche Ereignisse in eklatanter Ermangelung von Sachzusammenhängen, eben mangels kurzer Recherche? Wie oft beschweren sich Lügeninfluencer über Unternehmen, ohne einen Blassen davon zu haben, wie die Service-Abläufe sind, erwarten aber super pronto Entgegenkommen, egal wie viel Bockmist derjenige selbst im Umgang mit dem Produkt gebaut hat? Wie oft halten Hände Billigstklamotten vor die billige Linse der billigen Canon EOS, um für Niedriegslohnarbeit auf YouTube zu werben, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, warum ein Produkt so billig ist, dafür aber gaaaanz toll billig geschossen wurde? Diese Liste könnte ich ewig fortsetzen.
Schreib es Dir auf: Du machst Meinung!
Mit jedem Versatzstück, das Du auf Facebook, Instragram, Twitter, Snapchat, Youtube oder sonst wo hinterlässt. Ein bisserl mehr Nachdenken über die Wirkung Deiner Sätze und Bilder darfst Du Dir gönnen. Ebenso über die Wirkung schlampigster Recherche oder eben gar keiner Recherche. Gehe stets vom dümmsten anzunehmenden User aus: Er oder sie wird Dir Glauben schenken. Ohne nachzudenken. Denn Du bist es, der jeden Tag in die Wohnzimmer ausgestrahlt wirst. Du bist es, dem sie vertrauen. Nicht mehr der Melitta-Mann, der für Kaffee und Filtertütchen in die Kameras lächelt. Wenn Du lieber politisch ungebildete Bürger, den dummen Konsumenten, den Stammtischparolen johlenden Facebook-Freund heranziehen möchtest, tu das. Denke nicht nach, plappere selbst nach, recherchiere nicht, rede, wie Dir der Schnabel gewachsen ist. Ich nenne es „missbilden“. Beschwere Dich aber nachher nicht, wenn sich durch Deine Verdummungserziehung der User gegen Dich selbst wendet. Dich eines Tages nervt, anpöbelt, aggro angeht, kickt, schubst, unliked, unfaved, unfriended. Du hast es Dir selbst zuzuschreiben.
Verantwortung für Dritte
Ja, Papas und Mamas nerven. Sie erwarten Disziplin. Sie erwarten Bildung. Sie erwarten, dass Du Dich ok verhälst. Nachdenkst, bevor Du etwas in die Öffentlichkeit posaunst und Dich nicht zum Affen machst. Ob Du Dir einen Punkerhaarschnitt verpasst, Ketten durch Deine Nase ziehst, egal. Zeige Verantwortung Dir und Deiner Öffentlichkeit gegenüber. Mach was draus. Hinterlasse eine Welt, die Du Dir gewünscht hast. Das kostet Zeit, Nerven und Geduld. Aber vor allen Dingen das Bewusstsein, dass Du genauso wie die Superduper YouTuber und all die BILDs dieser Welt ebenso Meinung machst. Du trägst Verantwortung für Dritte. Wusstest Du nicht, warum sich social media eben social media nennt oder soziale Medien eben nicht ohne Grund soziale Medien genannt werden?
03.01.2017 um 16:01 Uhr
Super, Kommentar weg.
03.01.2017 um 16:35 Uhr
Jens, hast Du technische Kommentierungsprobleme?
22.01.2017 um 22:44 Uhr
Tja, die Kleinen von heute kleben sich Poster ihrer Youtube-Idole an die Wände und wollen morgen dann das Gleiche werden: Eine-sich-mit-Lippenstift-Fotografierende. Das System funktioniert, auch weil die Eltern es nicht anders vorleben. Tratschen am Küchentisch, Lästern am Telefon, Mobbing in der Teeküche – es scheint etwas zutiefst Menschliches zu sein, sich durch das verbale Erniedrigen anderer selbst zu erhöhen. Die Selbstreflexion der Eltern kann Kinder mit einem neuen Denken hervorbringen – zu wünschen wäre es.